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Zurück in seiner Zelle, ließ das Zittern allmählich nach. Es war wie nach einem Sturm. Das Gewitter und der peitschende Regen wurden schwächer, der Wind flachte ab, bis er nurmehr ein laues Lüftchen war, das bald gänzlich verschwand.

Kraftlos lag Nikolai auf der Pritsche und starrte die Decke an. Er schloss die Augen und versuchte, nach der ganzen Tortur zu schlafen, aber seine Gedanken, die wie ein wildes, ungezähmtes Pferd durch seinen Kopf rasten, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Die ganze Zeit musste er an die Drohung des Majors denken, daran, ob er etwas Falsches gesagt hatte, wann das nächste Verhör stattfinden würde und ob von Hohenstein tatsächlich auf Folter zurückgreifen würde. Er überlegte, was er ihm das nächste Mal erzählen sollte, damit er zufriedengestellt war, aber nicht zu viel erfuhr. Jede seiner wenigen Aussagen ging er nochmal im Kopf durch, jeden Satz, jedes Wort. 

Er durchforstete sein Gedächtnis, kramte in ihm wie in einer alten, verstaubten Kiste, versuchte sich vorzustellen, was sie ins Protokoll aufgenommen hatten, was davon er nächstes Mal wieder glattbügeln musste, um sie nicht auf die richtige Spur zu bringen. Hatte er schon jemanden verraten, jemandem geschadet, ohne es zu bemerken? Welche Fragen vonseiten des Majors waren echt gewesen, welche tückisch, falsch und irreführend, um ihn zu verwirren?

Krampfhaft versuchte er, sich Antworten zurechtzulegen, dieses Mal richtige, gute, intelligente, doch selbst wenn ihm kluge einfallen sollten, war er nicht sicher, ob er sie artikulieren konnte. Wahrscheinlich nicht.

Mittlerweile glaubte er, in den beängstigenden Reaktionen seines Körpers ein Muster zu erkennen. Das Stottern, das Zittern und die Lähmungen setzten bisher immer in Situationen ein, in denen er große Angst oder Anspannung verspürt hatte oder wenn ihn Erinnerungen an die Front überrollten. Es war, als lehne sich sein Körper gegen die Erlebnisse auf, um ihn vor jenen Gefühlen und Situationen zu schützen, die ihm dort zu schaffen gemacht hatten.

Nikolai konnte es kaum glauben. Früher war sein Körper sein bester Freund gewesen, das Instrument seiner Kunst. Jetzt fühlte er sich von ihm verraten. Er war sein Feind geworden, ein Gegenspieler, den er nicht besiegen konnte, der ihn vollends in seiner Gewalt hatte. 

Er hatte es immer geliebt, wie gut er ihn kontrollieren und spüren konnte, jeden einzelnen Muskel, jede einzelne Sehne. Er hatte Macht über ihn ausüben können und sein Körper hatte ihm bedingungslos gehorcht, gehorsam vierzehn Stunden am Tag gearbeitet. Er hatte Biss gehabt. Selbst mit blutenden Füßen hatte er sich Nikolais Willen gebeugt und alles für ihn getan. Er war sein einziger Verbündeter gewesen. 

Nun hatte er ihn verlassen.

Ihm kam eine Idee. Möglicherweise konnte es ihm helfen, zu tanzen. Es hatte immer eine positive Wirkung auf ihn ausgeübt. Langsam setzte er sich auf, wartete, bis seine Kraft zurückkehrte und schwang die Beine aus dem provisorischen Bett. 

Suchend ließ er seinen Blick schweifen. Hier gab es nichts, das sich als Ballettstange missbrauchen ließ, also konnte er nicht seinen gewohnten Ablauf anwenden. In Ermangelung besserer Alternativen stützte er sich an der Wand ab und versuchte sich an ein paar Pliés zur Aufwärmung. Natürlich funktionierte es ohne Stange nicht sonderlich gut, aber es war besser als nichts. Er führte einen Demi Plié, also eine halbe Kniebeuge, aus, gefolgt von ein paar Grand Pliés, ganzen Kniebeugen. Zu seinem Ärger musste er feststellen, dass seine Beine nicht mehr so kräftig waren und ihn selbst diese absoluten Grundlagen anstrengten. Verdammt. Er hätte sich nie freiwillig melden dürfen.

Danach ging es an die Tanzschritte. Er wollte eine Szene aus dem Nussknacker tanzen, doch schon beim ersten Versuch geschah es. Eine eigentümliche Art der Schwäche kroch an ihm hinauf, gefolgt von einem Zittern seiner Knie. Es fing langsam an und wurde nach und nach schlimmer, befiel andere Gliedmaßen, bis sein gesamter Körper betroffen war und er nichts weiter war als ein jämmerliches, schlotterndes Etwas.

Nein!, dachte Nikolai schockiert. Nicht beim Tanzen! Warum ausgerechnet da? Das hat gar nichts mit dem Krieg zu tun, es war immer mein Anker, mein sicherer Hafen.

Er wollte sich nicht damit abfinden, aufgeben war noch nie eine seiner Stärken gewesen. Energisch versuchte er, die Schritte trotz allem auszuführen, zwang seine Beine, sich zu bewegen.

Es brachte nichts.

Er konnte nicht einmal mehr richtig stehen. Überwältigt von seinen Emotionen, fiel er auf die dünne Strohmatratze, grub das Gesicht in das löchrige Laken und wünschte sich, nie wieder aufstehen zu müssen. Wenn er nicht mehr tanzen konnte, hatte sein Leben keinen Sinn, schlimmer noch, es hatte nie einen gehabt. Alles, woran er geglaubt hatte, wofür er gekämpft hatte, war mit einem Mal dahin.

So sehr er es sich wünschte, er kam nicht zur Ruhe. Seine Gedanken wollten nicht schweigen. Einmal losgetreten in diesem trostlosen Raum, in diesem vollkommenen Nichts, dieser beklemmenden Einsamkeit, rutschten sie unaufhaltsam wie eine Lawine den Abhang hinab, nahmen immer mehr zu und wurden Stück für Stück tödlicher.

Und er hatte Angst. Schon wieder.

Heute, in dieser Nacht, fürchtete er sich davor, dass ihn der Major erneut in seiner Zelle aufsuchen könnte.

Seine Sorgen blieben unbegründet. Von Hohenstein kam nicht in dieser Nacht und auch nicht in den unzähligen, die darauf folgten. Da war nichts als beklemmende Eintönigkeit. Nie bekam er jemanden zu Gesicht, wenn man von dem Wachposten, der das Essen brachte, einmal absah. Nie konnte er mit jemandem sprechen, nie etwas hören außer die gedämpften Stimmen, die vom Flur hereindrangen und nie etwas tun. 

Es gab nichts, womit er sich hätte ablenken können, kein Buch, das er lesen konnte, keinen Stift, um etwas aufzuschreiben oder auch nur sinnlos auf einem Blatt zu kritzeln, keine Bilder, die er betrachten konnte. Von morgens bis abends saß er auf seiner Pritsche oder stand verloren im Raum, jeden einzelnen Tag lang. Manchmal fürchtete er sich vor dem nächsten Verhör und manchmal wünschte er es sich regelrecht herbei, damit er wenigstens irgendeine Abwechslung hatte.

So schlimm er es fand, vernommen zu werden, alles war besser als diese vollkommene Isolation. Er wünschte sich sogar, man würde ihn wieder zur Zwangsarbeit auf dem Feld verpflichten. Gewiss, das war nicht die Art von Arbeit, die er schätzte, aber dort hätte er wenigstens Wiesen und Felder gesehen, er hätte frische Luft eingeatmet und sich mit Iwan in die Haare bekommen können. 

Es wäre nicht immer derselbe Raum gewesen, mit derselben Pritsche, demselben Eimer und denselben Spinnweben. Er hätte eine Ablenkung gehabt, etwas, das seine Gedanken zum Schweigen brachte, das seine hungrigen, schreienden, sich vor Verzweiflung windenden Sinne nährte, sie mit etwas anderem speiste als Pritsche, Eimer und Spinnweben.

Immer wieder versuchte er es mit dem Tanzen, unfähig, zu kapitulieren. Jedes Mal schüttelte ihn ein heftiger Zitteranfall und es wurde sogar schlimmer, je öfter er es versuchte.

Als er seinen Körper an diesem Tag wieder einmal dazu zwingen wollte, die Schritte auszuführen und seine Glieder erneut zu beben und zu zucken begannen, tauchte plötzlich das Bild jenes verhängnisvollen Bunkers vor ihm auf. Er sah, wie die Balken an der Decke unter dem heftigen Artilleriebeschuss brachen und schließlich herunterstürzten.

Warum kehrte diese Erinnerung ausgerechnet dann zurück, wenn er tanzen wollte? Das eine hatte nichts mit dem anderen zu tun. Oder doch? Er war für das Ballett in den Krieg gezogen, dafür hatte er sich darum bemüht, an der Lagebesprechung teilnehmen zu können und deswegen wiederrum saß er hier. Dennoch, das hing nur im übertragenen Sinne zusammen. Sollte das schon ausreichen?

Der schwarze SchwanWhere stories live. Discover now