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In dieser Nacht gelang es ihm endlich, in einen unruhigen Schlaf zu fallen. Er wälzte sich hin und her, ein Teil seines Bewusstseins war weggedämmert, während der andere wachsam blieb, gewappnet für eine mögliche Bedrohung. Tatsächlich hörte er irgendwann, wie die Tür mit einem leisen Quietschen geöffnet wurde. Sofort schoss sein Puls in die Höhe. Schwere Schritte näherten sich, begleitet von dem Klacken eines Spazierstocks. Nikolais Atem ging heftig, er blinzelte mit geweiteten Augen in die Dunkelheit und ballte seine Rechte zur Faust. 

Wie beim letzten Mal waren im schwachen Licht des Flurs nur die schemenhaften Umrisse des Majors zu erkennen, doch dieses Mal war Nikolai gewappnet. Als von Hohenstein direkt vor ihm stand, wagte er nicht einmal mehr zu atmen. Er rechnete damit, dass der Mann stehenbleiben würde wie einige Tage zuvor und sich drauf beschränkte, ihn anzustarren, doch zu Nikolais Verwunderung setzte er sich auf die Bettkante. Die Pritsche gab unter einem lauten Ächzen nach. Er will dich bestimmt umbringen!, schrie es in seinem Kopf. Gleich nimmt er ein Kissen und erstickt dich.

Das war der Moment, in dem sich Nikolai völlig vergaß. In blinder, rasender Panik schoss er hoch, hob die geballte Faust und wollte sie dem Major direkt gegen die Schläfe donnern. Ein heftiger Rückprall nahm ihm die Luft und peitschte einen stechenden Schmerz durch seinen Arm. Überrascht keuchte er auf. Von Hohenstein hatte seinen Schlag so beiläufig abgefangen, dass er es nicht einmal für nötig erachtete, ihn anzusehen. Sein Gesicht blieb völlig unbewegt, ebenso der Rest seines Körpers. Seelenruhig und hochaufgerichtet saß er auf dem elendigen Gestell wie auf einem Thron. Er wirkte wie ein Kaiser, ein Soldatenkaiser, gewiss; ein Herrscher, dessen größte Grausamkeit darin bestand, nicht aktiv grausam zu sein.

„W...w...was...wollen Sie?", stieß Nikolai hervor, während er versuchte, sich aus dem eisernen Griff des Offiziers zu winden. Offenbar hatte er wirklich Hände aus Stahl, er konnte sich keinen Millimeter daraus befreien. Er spürte die spitz hervorstechenden Knochen der Finger, denen Nikolai nicht im Ansatz eine solche Kraft zugeschrieben hätte. Was hatte er sich nur dabei gedacht, diesen Mann angreifen zu wollen? Er war kein Kämpfer. Die Männer, die er während seines Fronteinsatzes erschossen hatte, waren durch reine Zufälle ums Leben gekommen.

Ebenso beiläufig, wie von Hohenstein seine Faust festgehalten hatte, ließ er sie los, stand auf, tippte sich wie zum Gruß an die Schirmmütze und verschwand ohne ein einziges Wort. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, sprang Nikolai auf und hämmerte gegen das harte Holz.

„Bleiben Sie hier und sagen Sie mir endlich, was das soll!"

Keine Reaktion. Verzweifelt krallte er die Hände in seine Haare und begann damit, in der Zelle auf und abzugehen. Er trat energisch auf und lief zackig, auf und ab, immer auf und ab, während sich seine Gedanken wieder überschlugen. Er wollte, dass das aufhörte. Es brachte ihn um den Verstand, es machte ihn irrsinnig.

Trommelfeuer.

Erdbeben, herabstürzende Balken, Weltuntergang.

Wie von einer unsichtbaren Kraft gesteuert, blieb Nikolai stehen. Es war keine bewusste Entscheidung, etwas zwang ihn dazu und ließ seine Beine unbeweglich werden. Irgendetwas sagte ihm, dass er das nicht tun durfte. Er durfte nicht auf diese Weise auf und ablaufen. Er durfte auch nicht tanzen, denn mit einem Mal wusste er mit einer erschreckenden Gewissheit, dass er dem Wahnsinn anheimfallen würde, sollte er das wagen.

Übermüdet, wie er war, sackte er gegen die Wand und schloss die Augen. Er wollte einfach nur schlafen, tief und fest und sich einmal erholt fühlen. Allmählich merkte er, wie ihm der Schlafentzug zu schaffen machte. Jeder einzelne Muskel schmerzte, seine Augen fühlten sich an, als wären sie ausgetrocknet und seine Lider waren so schwer, dass er Mühe hatte, sie offen zu halten. Er bezweifelte, dass das ein Zufall war, vermutlich war all das Teil des Plans, ihn zum Reden zu bewegen. Abermals fragte er sich, ob er mit den Informationen nicht einfach herausrücken sollte. Er war kurz davor. Er musste sich nur etwas zu schreiben bringen lassen ...

Aber da war noch etwas anderes, das ihn zögern ließ, abgesehen von den Menschenleben, die auf dem Spiel standen und der historischen Tragweite des Ganzen, etwas Selbstsüchtiges und Sündiges: Stolz. So groß seine Furcht und sein Wunsch, hier herauszukommen, auch sein mochten, etwas in ihm sträubte sich, sich wie einen Spielball für die Interessen anderer herumschubsen zu lassen. Er war kein Werkzeug, das man benutzen und anschließend wegwerfen konnte, wenn man es nicht mehr brauchte. 

Wenn er irgendwann nach Russland zurückkehren sollte und diese Geschichte erzählte, wollte er nicht gestehen müssen, dass er bei den ersten Unannehmlichkeiten eingeknickt war. Sein Umfeld hielt ihn ohnehin für unfähig, der realen Welt gewachsen zu sein. Beinahe schämte er sich für dieses Motiv, aber so war er eben. Er hasste sich dafür, abgrundtief, aber er hatte keinen blassen Schimmer, wie er das ändern sollte.

Nach und nach wurde es heller in seiner Zelle. Das Zwielicht der Morgendämmerung kroch zusammen mit der Kälte durch die Ritzen und lenkte seinen Blick auf etwas kleines Weißes, das in einem winzigen Spalt in der Wand steckte. Was mochte das sein? Mit spitzen Fingern griff er danach und zog einen Papierschnipsel hervor, auf dem in unordentlichem Kyrillisch das Wort Hallo hingeschmiert worden war. 

Verwirrt starrte Nikolai die Buchstaben an. Was hatte das zu bedeuten? Stammte das von einem der Unglücklichen, die vor ihm in dieser Zelle verrottet waren? Aber wenn dieser Jemand Stift und Papier besessen hatte, warum hatte er dann ausgerechnet Hallo geschrieben? Nikolai suchte die Wand nach weiteren Hinweisen ab und tatsächlich wurde er fündig. Durch ein kleines Loch lugte die Spitze eines Bleistiftes hervor, die immer weiter herauskam. 

Nikolai konnte es kaum fassen. Das bedeutete ja ... Jemand befand sich in der Zelle neben ihm und versuchte, mit ihm zu kommunizieren! Aufgeregt schnappte er sich den Stift und wollte sofort antworten, doch er zögerte. Er wollte diesen Moment, in dem er etwas anderes tat als herumzusitzen und zu denken, bis ins kleinste Detail auskosten. Also zügelte er sich und schrieb bedächtig zurück. Er erwiderte den Gruß des Fremden und steckte die beiden Gegenstände zurück. Fasziniert beobachtete er, wie sie entgegengenommen wurden. Mit einer törichten Erregung wartete er auf die Erwiderung des anderen und hielt gespannt die Luft an.

Bist du hier auch eingesperrt?, kam es zurück. Die Rechtschreibung des Mannes war grausig. Vermutlich handelte es sich um einen Bauern, der er es in keine sonderlich hohe Klassenstufe geschafft hatte. Nikolai versuchte, sich seinen Leidensgenossen vorzustellen. Wie alt war er? War er groß oder klein? Hatte er ein freundliches Gesicht? In welcher Farbe schimmerten seine Augen?

Ja, entgegnete Nikolai hastig, als fürchte er, der Mann könnte weglaufen, wenn er nicht schnell genug war und ihn wieder allein in seiner Einsamkeit lassen. Natürlich war der Gedanke absolut unsinnig.

Warum?

Dieses Mal überlegte Nikolai länger. Am liebsten hätte er sich diesem Fremden sofort anvertraut, sich alles von der Seele geredet, aber er hielt sich zurück. Seine Erfahrung hatte gezeigt, dass Misstrauen zu Beginn einer Bekanntschaft immer eine gute Idee war, vor allem hier, wo er sich nicht sicher sein konnte, ob das eine der Taktiken des Majors war.

Ich werde verhört., gab er zurück. Und du?

Die Antwort kam auf einem neuen Papier. Wo hatte er das her?

Strafe absitzen. Weiß nicht, wie lange. Hab das Gefühl, schon ewig hier zu sein.

Ein Verbündeter, jemand, der nachvollziehen konnte, wie er sich fühlte. Nikolai konnte es kaum glauben.

Wofür wirst du bestraft?

Er rechnete nicht damit, dass darauf etwas folgen würde, aber er täuschte sich.

Wurde beschuldigt, eine Waffe bei mir zu tragen. Stimmt nicht.

Nikolai stutzte.

Wer bist du?

Diese Antwort wartete er besonders gespannt ab, wenngleich er bezweifele, dass der Mann ihm seinen Namen nennen würde. Wieder riet er falsch. Er riss das Blatt regelrecht aus dem Spalt, so gespannt war er.

Iwan. Und du?

Sekundenlang starrte Nikolai auf das Geschriebene. Egal, wie oft er es las, da stand tatsächlich Iwan. Ein Iwan, der dafür bestraft wurde, dass er eine Waffe bei sich getragen hatte. Das konnte kein Zufall sein. Unschlüssig kaute er auf dem Stift. Sollte er etwas erwidern? Wenn ja, sollte er seinen Namen preisgeben? Es dauerte eine Zeit, bis er sich entschied und darauf schrieb: Das Bübchen.

Der schwarze SchwanWhere stories live. Discover now