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Major Baranow hatte sich geirrt. Das Trommelfeuer endete nicht am nächsten Tag. Nikolai ging seiner selbstauferlegten Routine nicht mehr nach, er fürchtete sich davor, noch einmal derart die Besinnung zu verlieren. Irgendetwas musste er allerdings tun. Passivität war für ihn kaum zu ertragen, das Gefühl, einer Situation vollkommen ausgeliefert zu sein und keine Kontrolle zu haben. 

So fing er an, unruhig auf und ab zu gehen, von Bett zu Tisch, von Tisch zu Bett und wieder von vorn, pausenlos. Jeder Schritt war präzise gesetzt, sodass er exakt sechsundsechzig Zentimeter lang war. Das hatte er ausgemessen. Somit waren es jeweils vier Schritte hin und vier zurück. Es dauerte nicht lange, bis in seinem Gehirn nichts anderes mehr Platz hatte. Vier, sechsundsechzig, vier, sechsundsechzig. Tisch, Bett, Tisch, Bett. Immer wieder. Er hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und marschierte und marschierte und marschierte.

„Hören Sie auf mit diesem Unsinn, Leutnant, das macht einen ja krank!", fuhr ihn jemand an. Nikolai wusste nicht, wer es gewesen war. Er beachtete den Mann nicht. Vier, sechsundsechzig, vier ...

Ein Donnern, lauter als zuvor. Oh Gott, ich sterbe!

Nicht ablenken lassen! Bett, Tisch, Bett, Tisch, vier, sechsundsechzig ...

Er wiederholte die Worte so oft, bis sie sich ganz merkwürdig anhörten. Etwas berührte seine Schulter. Nikolai zuckte zusammen und wirbelte herum. Major Baranow stand vor ihm.

„Wollen Sie nicht mal etwas essen?"

Essen? Wozu essen? Was fiel diesem Mann überhaupt ein, ihn zu unterbrechen? Wütend fegte er die Hand seines Vorgesetzten beiseite und nahm seinen Marsch wieder auf. Vier, sechsundsechzig ...

„Leutnant?"

Nikolai ignorierte ihn. Er wollte nicht gestört werden. Nur mit Ehrgeiz und Disziplin konnte man ans Ziel kommen, bloß keine Zeit verschwenden. Er musste schneller werden. Und besser! Er war nicht gut genug, aber das würde er ändern. Er würde härter arbeiten als alle anderen, bis ihn niemand übertreffen konnte.

„Kann den bitte mal jemand festhalten und fesseln? Ich will schlafen."

Ja, so waren sie, diese Neider. Sie verachteten ihn für seinen Eifer, weil sie neidisch waren. Sie verstanden nicht, dass man sich einer Sache vollkommen hingeben musste, wenn man etwas erreichen wollte. Nichts anderes durfte man denken, sich mit nichts anderem beschäftigen. Deswegen dachte er nur Bett, Tisch, Tisch und Bett. 

Er lief immer schneller, trat von Mal zu Mal energischer auf. Es funktionierte nicht, es konnte gar nicht funktionieren, weil er keinen Gegner hatte. Gegen wen sollte er gewinnen, wenn niemand anderer den Sieg für sich beanspruchte? Dabei wollte er doch ein letztes Mal einen Erfolg feiern, bevor er hier zugrunde ging. Es gab nur eine Lösung: Er musste gegen sich selbst antreten, sich selbst besiegen. Ja, er würde gegen Nikolai, den Tänzer und gegen Nikolai, den Offizier kämpfen. Er marschierte so schnell wie möglich. 

Es wurde ein Kopf an Kopf Rennen. Mal lag der Tänzer vorne, mal der Offizier. Wann immer der Tänzer die Nase vorn hatte, platzte der Offizier vor Ärger und umgekehrt. Nikolai lief immer verbissener, fanatischer, fiebriger, mit einer Wut, die seinen ganzen Körper erzittern ließ.

„Das ist nicht mehr normal."

Nicht normal? Sollte er etwa untätig auf den Tod warten? Niemals. Oh, diese einfach gestrickten Menschen mit ihrem begrenzten Horizont, sie würden ihn nie verstehen.

„Ich gehe jetzt zu ihm."

„Sind Sie sicher, dass Sie das tun wollen? Er könnte um sich schlagen."

„Irgendeiner muss ihn stoppen."

Niemand würde ihn stoppen! Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht mehr aufzuhalten.

„Leutnant Orlow?"

„Was ist denn?", keuchte er gereizt.

„Sie sollten sich hinlegen."

„Ich sollte härter arbeiten."

„Kommen Sie."

„Verschwinden Sie!"

Nikolai konnte es nicht fassen. Was verlangte diese Person von ihm, wer auch immer sie war?

„Der Leutnant bereitet mir Unbehagen."

„Packen Sie ihn von hinten, dann kann er sich nicht wehren."

„Lassen Sie ihn. Er ist verloren, Sie können hier nichts für ihn tun, es sei denn, Sie wollen ihn Tag und Nacht festhalten oder fesseln."

Wieso sollte er verloren sein? Er tat doch alles, damit eben das nicht der Fall war. Lächerlich. Sie begriffen in der Tat nicht das Geringste.

„Aber, Herr Major ..."

„Tun Sie, was ich sage.

Endlich wurde er nicht mehr belästigt, sodass er sich voll und ganz auf seine Aufgabe konzentrieren konnte. Der Tänzer hatte einen großen Vorsprung erzielt. Frustriert schrie Nikolai den Offizier in Gedanken an, sich mehr Mühe zu geben. Von seiner gestrigen Schwäche keine Spur mehr, eine ungestüme Kraft trieb ihn vorwärts und zwang ihn, seinen Kampf fortzusetzen.

Der Artilleriebeschuss ließ den Bunker immer heftiger erbeben, es wurde lauter, immer noch lauter. Erde und kleine Steine rieselten auf seinen Kopf herab und er bildete sich ein, das Holz knacken und ächzen zu hören, aber Nikolai nahm es kaum wahr. 

Mittlerweile war es ihm egal. Alles, woran er denken konnte, war der Sieg. Schließlich ertönte ein Knall, der alles übertraf, was er bisher gehört hatte. In Nikolais Kopf schien etwas zu explodieren. Diese ungeheure Lautstärke sprengte sein Bewusstsein in viele kleine Scherben, die man, wenn überhaupt, lediglich bruchstückhaft zusammensetzen konnte.

Sein Geist spaltete sich von seinem Körper ab. Er verließ seine Hülle, die an diesem Ort des Schreckens gefangen war, unfähig, ihre Existenz zu retten. Er schwebte davon wie eine Feder, vom seichten Wind getrieben, hinaus in eine Welt voll Frieden und Sicherheit. Zurück ließ er ein leeres, unbedeutendes Gefäß ohne Seele. 

Und dann erklang plötzlich Musik in seinem Kopf: Schwanensee, 1. Akt, Prinz Siegfrieds Solo. Ein Teil von ihm wusste, dass er endgültig den Verstand verlor, doch das kümmerte ihn nicht. In dieser Stufe fühlte es sich sogar angenehm an. Wenn es so blieb, dann war er gerne wahnsinnig und wollte es für den Rest seines Lebens bleiben.

Wie von selbst hörten seine Beine mit dem pathologischen Marsch auf und begannen zu tanzen. Er hatte sich die Rolle des Siegfried immer gewünscht. Endlich war es so weit. Er schwebte über den Boden, berührte ihn kaum. Seine gesamte Lebensenergie floss in diesen Tanz, wusste er doch, dass sie beständig weniger wurde. 

Als er einen Sprung vollführte, glaubte er, zu fliegen. Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte Schmerz in seinen Knien und Ellenbogen auf. Er musste sich gestoßen haben. Nikolai schenkte dem keine Beachtung. Er tanzte weiter, einer Manie gleich, während draußen die Welt unterging und Ragnarök die Erde verschlang. Die Prophezeiung der Völuspá, die sein sechsjähriges, von Mythologie begeistertes Ich so gern gelesen hatte, spukte in seinem wirren Geist umher und vermischte sich zu den Klängen von Schwanensee.

Brüder schlagen dann,

morden einander;

Schwestersöhne

verderben Verwandschaft;

wüst ist die Welt,

voll Hurerei: 's ist

Beilzeit, Schwertzeit,

zerschmetterte Schilde,

Windzeit, Wolfszeit,

bis einstürzt die Welt –

Eine letzte Pirouette, ein letzter Sprung, eine letzte Arabesque. Ein erneuter Knall, dieses Mal gefolgt von panischen Schreien und dem Gestank nach Rauch. Nikolai blickte nach oben. Das letzte, was er sah, war der Balken, der auf ihn herabstürzte. Dann war da nur noch schwarzes, raum- und zeitloses Nichts.

Der schwarze SchwanDonde viven las historias. Descúbrelo ahora