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Neben dem Lärm war es vor allem das Gefühl, von der Außenwelt isoliert zu sein, das Nikolai in den Wahnsinn trieb. Außer Ratten jagen, essen und sinnlose Gespräche führen gab es nichts zu tun. Es gab auch nichts zu sehen, außer Betten, Tisch und Tür. Er war allein mit seiner Todesangst, seiner Verzweiflung und seinen Gedanken, die immer um das Selbe kreisten. 

Er war allein, obwohl er seine Kameraden um sich hatte. Keinen von ihnen konnte er einen Freund nennen, mit niemandem sprach er mehr als das Nötigste. Es gab schlichtweg nichts, was sie einander zu sagen gehabt hätten. Nicht einmal aus dem Weg gehen konnte er ihnen, so wie er es sonst zu tun pflegte. Er bekam jede ihrer Stimmungen mit, die wie seine eigene beständig zwischen Angst, Verzweiflung, Resignation und Wut wechselte. 

Hin und wieder schwappten diese Gefühle über, einem viel zu vollen Wasserglas gleich und sie beschimpften sich, gaben sich gegenseitig die Schuld an ihrer Situation und diskutierten endlos über Nichtigkeiten. Er hörte jedes ihrer Geräusche, das nicht vom Donnern der Artillerie übertönt wurde, jedes Schnarchen, jedes Husten und jedes Stöhnen derjenigen, die von Albträumen gemartert wurden. 

Der Major über ihm, der es in der nächsten Nacht im Gegensatz zu Nikolai schaffte, einzuschlafen, schnarchte, grunzte und pfiff beim Ausatmen. Jedes Mal, wenn er sich umdrehte, wackelte das Stockbett, als hätte sich ein Elefant herumgewälzt.

Nikolai dachte und dachte und dachte, bis er das Gefühl hatte, sich in dem ganzen Gewirr, das in seinem Kopf herrschte, zu verfangen. Er dachte darüber nach, warum er sich überhaupt freiwillig an die Front gemeldet hatte. Wie alle anderen war er anfangs davon ausgegangen, dass dieser Krieg höchstens ein paar Monate dauern würde. Er hatte geglaubt, es könne seiner Karriere als Balletttänzer zuträglich sein, sollte er sich auf dem Schlachtfeld beweisen und möglicherweise als Held zurückkehren. Natürlich war jeder versäumte Tag beim Ballett schädlich für die Fortschritte, die er gemacht hatte, aber die verpassten Übungen aus drei oder vier Monaten hätte er mit viel Arbeit und Disziplin aufholen können.

Stattdessen war alles anders gekommen. Der Krieg war bereits zwei Jahre alt. Zwei Jahre, in denen er nicht getanzt hatte. Seine wenigen heimlichen Übungen an ruhigen Tagen waren nicht einmal der Rede wert. Selbst wenn der Krieg dieses Jahr zu Ende gehen sollte – wofür es keinerlei Anzeichen gab – würde er Ewigkeiten brauchen, um sein altes Niveau wieder zu erreichen. Vermutlich würde man ihn nicht mehr als Solist beschäftigen, sondern ihn zurück in das Corps de Ballet stecken, wo man nur unbedeutende Rollen im Hintergrund bekam.

Er kam nicht umhin, auch an seine Eltern und seinen jüngeren Bruder Ilja zu denken. Nun, da er die Befürchtung hegte, aus diesem Bunker nicht mehr lebend herauszukommen, bedauerte er es, im Streit mit ihnen zu liegen.

Nachdem er zum Ballett gegangen war, hatten sie ihn enterbt und Ilja als Nachfolger eingesetzt, der sich sehr darüber gefreut hatte. Er war ohnehin immer eifersüchtig auf Nikolai gewesen, weil er der Ältere und somit der Erbe war. Deshalb hatten sie nie ein gutes Verhältnis zueinander gepflegt. Obwohl sie ihn aus der Familie ausschlossen, schickten sie ihm trotzdem regelmäßig Geld. Schließlich hätte es dem Ansehen der Familie Orlow in der Öffentlichkeit geschadet, sollte ihr ältester Sohn in bescheidenen Verhältnissen leben.

Das war ihnen schon immer das Wichtigste gewesen: Das öffentliche Ansehen. Es war einer der Gründe gewesen, warum sie seine Entscheidung, Tänzer zu werden, so erzürnt hatte. Sie schämten sich dafür, dass er sich vierzehn Stunden am Tag körperlich abrackerte wie ein Bauer, obgleich ein Sohn aus einer Adelsfamilie das nicht nötig hatte. Er passte nicht in die gesellschaftliche Rolle, in die sie ihn zwängen wollten und dafür verurteilten sie ihn. 

Anfangs taten sie seine Leidenschaft für das Ballett als kindliche Begeisterung ab, die schnell verfliegen würde. Allein deshalb erlaubten sie es ihm als Siebenjährigen überhaupt, Ballettunterricht zu nehmen. Sie waren der Meinung, dass es ihm zur Vorbereitung auf das Leben nicht schaden könne, Disziplin zu lernen und dabei etwas für die physische Gesundheit zu tun.

Der schwarze SchwanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt