5.1

14 2 12
                                    

Die kommenden Tage waren beherrscht von Übelkeit, Schwindel und stechenden Schmerzen. Er schlief schlecht, weil es auch hier nie ruhig war. Ständig wurden neue Verwundete eingeliefert, es gab immer jemanden, der schrie, redete oder andere Geräusche ausstieß. 

Schaffte er es doch einmal, wegzudämmern, plagten ihn wirre Träume. Er sah sich auf der Bühne, der einzige Ort, an den ihn die vielen Reize nicht überforderten, weil er beim Tanzen in seiner eigenen Welt versank, sah, wie er den Blauen Vogel tanzte, der zu einer seiner erfolgreichsten Rollen geworden war. Er sah, wie das Publikum vor Begeisterung klatschte und Blumen auf die Bühne warf. Er sah auch, dass seine Eltern nicht anwesend waren, so wie immer, als wüssten sie, dass er seinen Erfolg allein seiner Niedertracht zu verdanken hatte. 

Von einem Augenblick auf den anderen befand er sich auf dem Schlachtfeld, anschließend im Bunker und kurz darauf in einem deutschen Gefangenenlager, in dem ihn ein grobschlächtiger Kerl mit Zangen und glühenden Eisen folterte. Jedes Mal schreckte er schweißgebadet aus dem Schlaf, wobei seine Suche nach Orientierung an seinem Kopf scheiterte, der unaufhörlich Karussell fuhr.

Obwohl Ärzte die Pflicht hatten, sich um alle Menschen gleichermaßen zu kümmern, wurde Nikolai das Gefühl nicht los, zugunsten deutscher Soldaten übergangen zu werden. Wenn er um Wasser bat, musste er meist eine gefühlte Ewigkeit warten, während Deutsche viel schneller versorgt wurden. Bei der Visite sah zwar jedes Mal ein Arzt nach ihm, aber er war stets einer der letzten. Vielleicht, überlegte Nikolai, selektiert man irgendwann automatisch und beginnt, die gegnerische Seite zu hassen, wenn durch ihre Schüsse der Bruder, der beste Freund oder ein anderer Mensch gefallen ist, der einem etwas bedeutet hat.

Er verstand das, wobei er nicht von sich behaupten konnte, das Gefühl zu kennen. Sein Hass auf die Deutschen war immer nur temporär, vor allem in den Momenten, in denen sie auf die Strategie des Trommelfeuers zurückgriffen, aber er war nie von dauerhafter Natur. 

Selbstverständlich bedauerte jeden seiner Männer, der starb, doch das war alles. In zwei Jahren an der Front war er noch keinem begegnet, dem er sich so nahe gefühlt hatte, dass sein Tod ihn in tiefe Trauer gestürzt hätte. 

Anfangs hatte er aufgrund seiner Deutschkenntnisse hinter den Linien als Übersetzer gedient, bis er sich eingestehen musste, dass er die Sprache nicht gut genug beherrschte, um komplexe Texte ins Russische übertragen zu können. Außerdem war es seinem eigentlichen Ziel, in der Armee für seine Tanzkarriere aufzusteigen, nicht zuträglich gewesen, weshalb er sich um ein Feldkommando bemüht hatte.

 Prompt hatte er eines erhalten und es schon nach dem ersten Tag bitter bereut. Das Grauen, das er gesehen hatte, würde ihn nie wieder loslassen, das wusste er. All die verstümmelten Körper, Männer, die nach ihren Müttern schrien und diese alles beherrschende, lähmende Angst, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte. Er war unendlich froh, dass das zu Ende war, er nicht zurückmusste. Die Furcht jedoch blieb.

Eine Schwester kam, um seine Verbände zu wechseln. Es war nicht jenes zarte Wesen, das er an seinem ersten Tag im Lazarett gesehen hatte, sondern eine Frau in ihren Dreißigern, die selten lächelte und ihn immer am längsten warten ließ, wenn er um etwas bat. Nikolai beschloss, auf seine alte Strategie zurückzugreifen.

„Sie leisten hervorragende Arbeit, Schwester. Habe ich Ihnen eigentlich schon einmal gesagt, dass Sie mir die liebste von allen sind? Sie wirken so professionell und hingebungsvoll." 

Während er diese Worte sprach, schenkte er ihr sein schönstes Lächeln. Zu seiner Überraschung erwiderte sie es. Es milderte ihre strengen, nahezu harten Gesichtszüge und ließ sie um Jahre jünger wirken.

„Danke." Sie errötete. „Sehr freundlich von Ihnen."

„Man sollte ein Lob stets aussprechen, statt es nur zu denken, besonders in Gegenwart einer bezaubernden Dame", gab er zurück und versuchte, noch einen Hauch schöner zu lächeln, obwohl ihm so übel war, dass er befürchtete, sich erneut übergeben zu müssen. Die Schwester strich sich eine Haarsträhne, die sich unter der Haube gelöst hatte, hinters Ohr und verpackte das Verbandszeug.

Der schwarze SchwanWhere stories live. Discover now