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„Werte Herren, ich frage Sie, haben Sie denn alle nichts aus der Niederlage vom Naratsch-See gelernt? Wir besitzen zu wenig Reserven für eine solche Offensive!"

„General Kuropatkin spricht wahre Worte! Außerdem verfügen wir über zu wenig schwere Artillerie!"

„Sie sind ein Schwachkopf! Es kann gelingen, auch ohne zusätzliche Reserven, Seine Exzellenz, General Brussilow, hat vollkommen recht!"

„Haben Sie mich gerade einen Schwachkopf genannt, Oberst? Dann kommen Sie her und ich zeige Ihnen, was für ein Schwachkopf ich bin! Niemand beleidigt mich in meiner Ehre als Edelmann!"

Worte, so viele Worte ohne Inhalt. Ein ewiges, sinnloses Gestreite, laut und tosend, aber leer und wenig zielführend, wie eine stürmische See, in der es keine Lebewesen gab. Durch die meterhohen Wellen, die brausend gegen Felsen krachten, versuchte sie, zu verbergen, dass in ihrem Inneren eintöniges Nichts herrschte. 

Nikolais Kopf schmerzte. Seine Sinnesorgane scheiterten daran, die Gespräche in irgendeiner Weise filtern zu können. Es war so viel, so verwirrend. Was hatte er sich nur dabei gedacht, unbedingt an dieser Lagebesprechung teilnehmen zu wollen? Es war vorhersehbar gewesen, dass sich die anwesenden Offiziere nur zanken und sich gegenseitig anschreien würden. Es ging nicht darum, eine gemeinsame Lösung zu finden, geschlossen gegen den Feind vorzugehen, nein, es ging lediglich darum, sich gegenseitig zu übertrumpfen, seine eigenen Pläne mit aller Macht durchsetzen zu wollen und seine Konkurrenten auszustechen. Es war wie beim Ballett. Es gab kein Miteinander, nur ein Gegeneinander.

Der würzige Geruch von Tabak hing in der stickigen Luft und der Rauch zog in Schwaden durch den Raum, der nichts militärisch Schlichtes an sich hatte. Nikolai saß in einem Sessel, der so weich war, dass er sich im Paradies wähnte. Staunend befühlten seine Hände den Seidenstoff der Polster, die mit goldenen Fäden durchwirkt waren. Es war so lange her, dass er derart bequem gesessen hatte, dass er beinahe vergessen hätte, wie sich das anfühlte. Gleichzeitig kam er sich vor wie ein Verräter. Während seine Männer wie Tiere im Dreck hockten, froren und hungerten, hatte er es weich, gemütlich und warm. Er kam nicht umhin, sich zu schämen.

Die anwesenden Offiziere hatten sich um einen riesigen Mahagonitisch versammelt, der beinahe das gesamte Zimmer einnahm und in einem satten Rot-Braun glänzte. Nikolais Augen klebten regelrecht daran fest. Wann hatte er zuletzt etwas Sauberes und Glänzendes gesehen? In der Mitte des Tisches befand sich ein überdimensionierter Lageplan, der die Positionen und Truppenbewegungen der deutschen, österreich-ungarischen und russischen Armeen zeigte. Wobei, eigentlich war die Karte nicht exakt in der Mitte ausgerollt worden. Von der linken Längsseite des Tisches war sie ein paar Zentimeter weiter entfernt als von der rechten und sie war nicht genau parallel zur Kante ausgerichtet. Er starrte schon die ganze Zeit darauf, bis er es nicht mehr aushielt, sich vorlehnte und sie zurecht zog. Hier musste sie noch ein Stück weiter nach rechts, dort ein paar Millimeter nach oben ...

Perfekt. So war es viel besser. Zufrieden ließ er sich wieder in seinen Sessel sinken. Als er aufsah, erntete er die verdutzte Blicke jener Offiziere, die nicht in den Streit verwickelt waren. Er ignorierte sie. Irgendeiner musste in dem ganzen Chaos schließlich für Ordnung sorgen. General Alexei Alexejewitsch Brussilow kam offenbar zu dem gleichen Schluss. Der hochgewachsene, schlanke Mann mit seinem dichten, ergrauten Haar und dem buschigen weißen Schnauzbart schaffte es wie durch ein Wunder, über das Geschrei der Streithähne derart donnernd hinwegzubrüllen, dass ein jeder, einschließlich Nikolai, erschrocken zusammenzuckte.

„Ruhe!"

Sofort kehrte Stille ein. Das Brausen des Sturms ließ nach, brach so abrupt ab, dass sich die plötzliche Ruhe anfühlte wie die lang ersehnte, zarte Berührung einer Frau. Nikolai atmete erleichtert auf. Endlich. Man konnte sogar wieder das aufgeregte Zwitschern des sonnengelben Kanarienvogels hören, dessen mit Blattgold überzogener Käfig in einer Ecke des Raumes stand. Armer kleiner Kerl, dachte Nikolai voller Mitgefühl.

Der schwarze SchwanKde žijí příběhy. Začni objevovat