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„Das Protokoll war nirgends aufzufinden gewesen, Bübchen."

„Was sagst du da?"

„Es war nicht bei den anderen Protokollen gewesen."

„Bist du sicher?"

„Otto sagt, er hatte alles durchsucht."

Nikolai schüttelte den Kopf. Statt Antworten erhielt er immer noch mehr Fragen.

„Bist du sicher?", wiederholte er.

„Ich kann nur Ottos Worte wiedergeben."

„Was könnte der Grund dafür sein?"

„Dieser Kompaniefeldwebel Reiser tut das Protokoll führen, richtig?"

Nikolai nickte.

„Es könnte eine einfache Erklärung geben: Er hatte es zu dem Zeitpunkt gerade bei sich, weil er es nachbereiten musste."

„Das wäre ein Grund, aber ich glaube es nicht. Ich denke, dass hinter dieser ganzen Angelegenheit viel mehr steckt. Mit von Hohenstein stimmt etwas nicht."

„Ich weiß, dass du das denken tust, du wirst ja nie müde, es zu erwähnen."

„Er hat kürzlich mit mir über Kunst gesprochen, Iwan. Und er wurde fast emotional dabei."

Iwan lachte leise. „Von Hohenstein und emotional? Das tue ich nicht glauben."

„Ich sage doch, dass mit ihm etwas nicht stimmt."

Schritte auf dem Flur. Nikolai horcht auf und legte den Zeigefinger auf die Lippen, um dem Kosaken zu signalisieren, dass er nicht antworten sollte.

„Bring das Brett an, Iwan, schnell."

Iwan tat, wie ihm geheißen. In dem Moment, in dem er den Kopf zurückzog, flog die Tür auf und einer der Wachsoldaten trampelte herein. Hastig stellte sich Nikolai vor die verräterische Öffnung in der Wand.

„Mitkommen, Russe."

Nikolais Herz schien für ein paar Takte auszusetzen.

„Warum?"

Der Soldat zuckte mit den Schultern. „Hast Hofgang. Komm jetzt!"

War die Isolationshaft etwa zu Ende? Das ergab keinen Sinn. Er hatte doch noch gar nichts verraten. Vermutlich war es nichts weiter als eine neue absurde Methode, um ihn zu quälen, auch wenn sich ihm nicht erschloss, was sie bezweckte.

„Hofgang?", wiederholte er verständnislos. „Warum?"

„Befehl des Majors. Wenn du dich nicht gleich bewegst, mach ich dir Beine, geht alles von meiner Pause ab!", fuhr ihn der Wachposten an, als er sich nicht gleich rührte. Verstohlen schielte Nikolai über die Schulter, sah zu seiner Erleichterung, dass Iwan die Lücke verschlossen hatte und folgte dem Soldaten nach draußen.

Er hatte geglaubt, das Gefühl, Sonnenstrahlen im Gesicht zu spüren, vergessen zu haben. In der Tat fühlte es sich fremd und merkwürdig an. Die sanfte Wärme, die über seine Haut streichelte, löste ein Kribbeln in ihm aus, als versetze sie sein eingefrorenes Blut in Bewegung, das ihn mit neuer Lebensenergie flutete. Ob der gleißenden Helligkeit konnte er die Lider nur einen Spalt öffnen. Es grenzte an Schmerz, wie die Strahlen in seine Augen stachen und ihn blendeten. Er kam sich vor wie in einem surrealen Traum. Fast erwartete er, fliegende Pferde oder dergleichen zu sehen, doch als er sich an das Licht gewöhnte, war da nur das gewöhnliche Leben, das die ganze Zeit normal weitergelaufen und an ihm vorbeigezogen war. Er konnte es kaum fassen, drehte sich im Kreis, als befinde er sich an einem Ort von atemberaubender Schönheit, den er zum ersten Mal in seinem Leben erblickte. Der Stacheldrahtzaun, die Wachtürme mit Maschinengewehren, die hölzernen, eintönigen Baracken; all das, was ihn vor wenigen Wochen noch mit Schrecken erfüllt hatte, erschien ihm jetzt wie das Paradies auf Erden.

Der schwarze SchwanWhere stories live. Discover now