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Bevor er weiter in seiner Erinnerung versinken konnte, betrat von Hohenstein den Raum. Sofort krampfte sich alles in Nikolai zusammen, als er diesen Mann sah. Dass er heute allein war, wirkte seiner Furcht nicht gerade entgegen. Warum waren Reiser und Schwarzer nicht anwesend? Wollte der Major ihn dieses Mal foltern und dabei Zuschauer vermeiden?

Als wäre es das Normalste auf der Welt, nickte von Hohenstein ihm zur Begrüßung zu, setzte die Schirmmütze ab und entledigte sich seines triefenden Mantels. Es regnete ununterbrochen, Nikolai konnte das Trommeln der Tropfen an der Außenwand vernehmen.

Er hängte das Kleidungsstück an einem Haken an der Wand auf. Die Handschuhe ließ er wie immer an. Anschließend verließ er den Raum. Verdutzt blieb Nikolai zurück. Was sollte das schon wieder? War das eine neue Technik? Sollte er nochmal warten? Er schloss die Augen und ließ seinen zitternden Atem entweichen. Beinahe war er so weit. Wenn sie ihn noch ein wenig länger quälten, würde er alles sagen, was er wusste. 

Seine Augen brannten vor Müdigkeit und tränten vom Schlafmangel, der dafür sorgte, dass er während der Verhöre immer unaufmerksamer wurde und Dinge sagte, die er eigentlich lieber für sich behalten hätte. Er merkte sogar, dass er sich danach oft nicht mehr im Detail daran erinnern konnte, was er gefragt worden war und was er geantwortet hatte. Er verhedderte sich immer mehr in einem Netz aus Wahn, Schuldgefühlen und diesen ewigen, wirren Gedanken. Dieses Mal setzte das Zittern bereits ein, bevor der Major ihm Fragen stellte. Wie meistens fing es mit seinen Händen an. Nikolai klemmte sie zwischen seinen Oberschenkeln ein, um sie zu beruhigen. Dabei wusste er, dass nichts und niemand die Symptome aufhalten konnte, wenn sie einmal im Gange waren.

Und so verweilte er dort auf dem immer gleichen Stuhl, an dem er die Maserung des Holzes schon so oft betrachtet hatte, dass er sie mittlerweile besser kannte als sein eigenes Haus. Ihm war jeder kleine Ritz bewusst, jede Macke, jeder braune Fleck, der einmal ein Astloch gewesen war. Besonders die Kratzer seitlich an der Sitzfläche hatte er schon tausendmal gemustert, weil sie aussahen, als hätte jemand seine Finger hineingekrallt und das Holz mit seinen Nägeln beschädigt, jemand, der genauso viel Unsicherheit und Verzweiflung verspürte hatte wie er. 

Er starrte den immer gleichen Tisch an, an dem der Major zu sitzen pflegte, während seine Augen hartnäckig nach etwas anderem lechzten als immer die gleichen Gegenstände in den immer gleichen Situationen. Eben weil sie so hilflos nach irgendeiner Abwechslung suchten, blieben sie an dem Mantel seines Peinigers hängen. Eine kleine Pfütze hatte sich unter dem Kleidungsstück auf dem Boden gebildet, in die immer neue Tropfen herunterfielen und sie kaum merklich vergrößerten. Nikolai zählte jeden einzelnen davon. Eins, zwei drei, vier, fünf... Bei zweiunddreißig angelangt, rannen die Regentropfen nicht mehr ab, was ihn mit einer unnötigen Wut erfüllte. Warum hörten sie ausgerechnet bei zweiunddreißig auf? Warum nicht bei dreiunddreißig, einer schönen Zahl?

Minutenlang wartete er darauf, dass sich doch noch ein Tropfen lösen möge, nur ein einziger, dann wäre er zufrieden. Dreiunddreißig, er wollte dreiunddreißig!

Je mehr Zeit verging, desto ungeduldiger wurde er. Das Zittern verstärkte sich, der Schweiß brach ihm aus, während er sich so fest auf die Unterlippe biss, bis er Blut schmeckte – schon wieder. Er konnte es nicht sein lassen, irgendwo musste er sich ein Ventil schaffen, etwas, woran er all seine unterdrückten Gefühle auslassen konnte.

Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Der Tropfen musste, musste fallen! Er stand auf und zwang seine unsicher gewordenen Beine, sich zu dem Mantel zu bewegen. Gerade, als er sich einen der Tropfen ausgesucht hatte, der die dreiunddreißig vollenden sollte, blieb sein Blick an der Brusttasche des Kleidungsstücks hängen. Sie war ausgebeult, nur minimal, doch für jemanden wie Nikolai, der regelrecht nach solchen Details suchte, nicht zu übersehen. Das Zittern wurde noch heftiger, dieses Mal aber vor freudiger Erregung. Die bloße Vorstellung, etwas betasten oder gar sehen zu können, das sich von der Monotonie seiner Tage unterschied, jagte Adrenalinschübe durch seinen Körper. Was mochte es wohl sein? Ein Buch? Eine Brieftasche? Etwas ganz anderes, vielleicht sogar etwas Außergewöhnliches, das er bestaunen konnte, das andere Gefühle in ihm hervorrufen würde? Nikolai wusste nicht, wann er zuletzt ein vorfreudiges Kribbeln wie dieses verspürt hatte, eine positive Art der Anspannung und der Erwartung, an der er zu platzen drohte. Er musste wissen, was es war.

Der schwarze SchwanTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang