17.1

15 2 3
                                    

Ihr Ziel war ein alter Friedhof. Dunkle Mauern aus Sandstein umgaben ihn wie ein Festungswall, bewachsen mit Moosen und Efeuranken, deren dunkles Grün sich in den Kronen der Ahornbäume, die ringsherum standen, wiederfand.

Von Hohenstein befahl der Eskorte, am schmiedeeisernen Tor zu warten, bevor er mit Nikolai auf den schmalen Trampelpfaden, die sich um die Gräber schlängelten, entlangspazierte. Dazwischen betupften überall Büsche und Sträucher die Anlage, die einem das Gefühl vermittelten, man befinde sich auf einem Waldfriedhof. Sie kamen an prachtvollen Familiengräbern vorbei, auf denen aufwendige Grabsteine und Statuen das Ansehen der Familie in die Welt hinausschrien und an kleinen, zugewachsenen, vergessenen Gräbern, die so alt waren, dass selbst die Inschriften kaum noch zu entziffern waren. Letztere waren es, die Nikolai in ihren Bann zogen. Unvermittelt blieb er stehen und versuchte, sich die traurigen Geschichten vorzustellen, von denen sie zeugten.

„Ich komme gern hierher", durchbrach von Hohenstein die Stille. „Ich versuche immer, mir vorzustellen, was das wohl für Menschen gewesen sein mochten, die, von der Welt vergessen, hier unter der Erde liegen, welche Wünsche und Träume sie hatten, ob sie es geschafft haben, sie zu erreichen, bevor der Tod über sie kam. Das inspiriert mich."

Nikolai verstand, was der Major meinte. Genau wie von der Burgruine ging auch von diesem Ort eine seltsame Anziehungskraft aus. Die Ruhe, der Geruch der Vergänglichkeit, die Allgegenwart der Vergangenheit, die beinahe greifbar schien ...

Er spürte, wie er sich beruhigte, wie auch die letzten Spuren seines Anfalls verblassten und verschwanden. Er atmete die kühle, klare Luft ein, bis sie seine Lungenflügel flutete und Lebensenergie in ihm zu prickeln begann.

„Tod, Zerfall, Vergänglichkeit. Sie scheinen sich mit nichts anderem zu beschäftigen, Major."

„Ich glaube, das können wir nicht mehr, wir Soldaten, die wir einmal den Schrecken des Krieges erlebt haben. Die Welt der Lebenden erscheint uns fremd und fehlerhaft, als gehörten wir dort nicht hinein. Jeder stirbt auf dem Schlachtfeld, Leutnant. Jeder."

Während er diese Worte sprach, ließ er Nikolai nicht aus den Augen und er verstand genau, warum. Er fühlte sich ertappt, war es doch genau das, was er beim Gang durch die Stadt empfunden hatte. Von Hohenstein musste das klar sein, aber es tat gut zu wissen, dass er damit nicht allein war.

„Es mag Ihnen widersprüchlich erscheinen, aber trotzdem ist es nicht der Tod, den ich als Motiv für meine Bilder bevorzuge."

„Was dann?", fragte Nikolai.

Wieder warf ihm von Hohenstein einen durchdringenden Blick zu. „Balletttänzer."

Nikolai wusste nicht, warum er bei diesem Wort zusammenzuckte. Zum einen war er überrascht, doch er spürte, dass da noch etwas anderes war, das er nicht beschreiben konnte.

„Wie kommen Sie dazu?"

Von Hohenstein rückte die Schirmmütze zurecht, ehe er beide Hände auf dem Knauf seines Spazierstockes verschränkte, wie er es so oft zu tun pflegte.

„Das Ballett übte immer schon eine besondere Faszination auf mich aus, bereits als ich ein kleiner Junge war. Wann immer ich mir Ballette ansah, verspürte ich den Drang, diese feenhaft wirkenden Wesen, die dort über die Bühne schwebten, zu zeichnen. Als Künstler strebe ich nach Ästhetik, Schönheit und fremden Welten fernab des tristen Alltages. Ballett verkörpert für mich all das."

„Haben Sie einmal darüber nachgedacht, selbst zu tanzen?", fragte Nikolai, erstaunt und gleichzeitig erfreut darüber, dass der Major Ballett derart schätzte. Auch, wenn er es sich nicht eingestehen wollte, so musste er zugeben, dass sie einander tatsächlich auf eine seltsame Art und Weise ähnlich waren.

Der schwarze SchwanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt