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Galizien, 1916

Rot.

Der einzige Farbtupfer in der milchig grauen Suppe des Winternebels. Rot wie Blut. Ein makabrer Kontrast, geschmacklos gesetzt wie in einem schlechten Gemälde, angefertigt von einem geisteskranken Künstler. Rot. Die Farbe der Liebe? Wer war jemals auf die Idee gekommen, ihr diese Bedeutung zuzuschreiben? Leid, Schmerz und unvorstellbare Grausamkeit. Das war alles, wofür sie stand.

Der Geruch von Rauch, beißend und erstickend. Einer der letzten Zeugen für das Feuer, das hier noch vor wenigen Stunden gewütet hatte. Von Schlachtengetümmel keine Spur mehr. Kein Brüllen von Befehlen, keine Schreie. Nichts. Nicht einmal der Wind heulte. Der Qualm hing in der Luft wie eine schwere, unheilvolle Decke. Ein Leichentuch. Der seit Wochen hart umkämpfte Frontabschnitt lag gespenstisch still vor ihnen und war halb verschluckt von den Nebelschwaden, die geisterhaft durch den frühen Morgen krochen. Es war, als hielte die Welt eine Schweigeminute ab für all die verlorenen russischen und deutschen Seelen, die in dieser Schlacht ihr Leben ausgehaucht hatten. 

Nikolai und die sechzig Mann seines Zuges konzentrierten sich darauf, nicht auf die Leichen zu steigen, doch bei dieser Unzahl war das nicht möglich. Immer wieder trat er auf eine Hand, auf einen Arm, auf ein Bein ... nicht immer waren sie noch Teil eines Körpers. Der Atem, den Nikolai gegen seine klammen Hände hauchte, stieg als Dunstwolke in die raue Luft. Ihm war kalt. Es mochte Winter herrschen, aber diese Kälte kam nicht von außen, sondern von innen. Sie drängte sich mehr und mehr an die Oberfläche, bis seine Glieder steif wurden und er sich nur noch mit Mühe fortbewegen konnte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, diesen Graben des Grauens auch nur einen Zentimeter weiter zu erkunden, doch er hatte seine Befehle.

Nachdem die Deutschen einen Großangriff auf diesen Bereich gestartet hatten und es abzusehen gewesen war, dass die Verluste nicht nur auf deutscher Seite, sondern auch auf der eigenen enorm sein würden, war seine Einheit hierher verlegt worden, um diese auszugleichen. Nachdem er von dem Feuer gehört hatte, das versehentlich ausgebrochen war, war ihm klargeworden, dass er hier nicht mehr als Tod und Verwüstung vorfinden würde, dennoch hatte ihn nichts auf den tatsächlichen Schrecken vorbereiten können. Er hatte nach zwei Jahren Krieg schon vieles gesehen, aber die zum größten Teil vollkommen verkohlten Leichen erfüllten ihn mit einem Entsetzen, das er nicht in Worte fassen konnte.

An manchen Stellen waren es ihrer so viele, dass sie sich zu Haufen und Bergen verbrannter Scheite eines erloschenen Lagerfeuers türmten, das sich schwarz und kalt vor ihm erstreckte, soweit der Dunst ihn sehen ließ. Der Gestank von verkohltem Fleisch biss ihm in die Nase und würgte ihn. Nikolais Magen rebellierte und er fürchtete, dass er sich jeden Moment übergeben musste, so übel wurde ihm. Das Atmen fiel ihm schwer und er musste sich zusammenreißen, nicht auf der Stelle kehrtzumachen und zu fliehen. Er wollte rennen, bis ihn seine Beine vor Erschöpfung nicht mehr trugen und er so weit von der Front entfernt war, dass ihn niemand jemals wiederfinden konnte. 

Seinen Männern schien es ähnlich zu ergehen. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Nikolai drehte sich nicht zu ihnen um. Er befürchtete, er könnte seinem animalischen Fluchtinstinkt erliegen, sollte er nur ein einziges Mal zurückblicken. Außerdem galt es für ihn unbedingt zu vermeiden, dass seine Untergebenen Anzeichen von Schwäche auf seinem Gesicht erkennen konnten. Er war Leutnant der Kaiserlich Russischen Armee, diese Blöße durfte er sich nicht geben.

Er ging weiter. Der schlammige Boden schmatzte unter seinen Füßen und die Pfützen, in die er trat, lieferten die Erklärung dafür, wie das Feuer gelöscht worden war: Es hatte angefangen zu regnen. Leider viel zu spät. Zwar schien der Großteil der Stellungen nur leicht beschädigt zu sein, aber zumindest hier, im vordersten Graben, hatte offenbar niemand überlebt. Wieder stieg er auf etwas, das eindeutig nicht der gewöhnliche Untergrund war. Ein Schaudern durchlief ihn und am liebsten hätte er sich vor Ekel geschüttelt. Am besten nicht hinsehen. Sein guter Vorsatz hielt nicht lange an. Die Neugierde überwiegte und er warf einen Blick nach unten.

Es war kein Mensch, der sich unter seinem Stiefel befand. Auch stand er nicht auf einzelnen Gliedmaßen. Nein, es war ein kleines Buch. Er wusste nicht, warum er so handelte, aber irgendetwas verleitete ihn dazu, sich zu bücken und den so fehlplatziert wirkenden Gegenstand aufzuheben.

Er zog den rechten Handschuh aus, um den Einband befühlen zu können. Behutsam wischte er den Film aus Schlamm und Blut ab und stellte fest, dass das Material glatt und angenehm weich war. Lammleder, vermutete er, äußerst hochwertig. Einen Moment zögerte er. Sollte er es aufschlagen? Was, wenn es ein Tagebuch war? Verhielt er sich dem Toten gegenüber dann nicht respektlos? Erneut konnte er nicht anders. Er musste wissen, was darinstand, also öffnete er es. 

Auf der ersten Seite blickte ihm das Portrait eines ernsten, streng wirkenden Mannes mit einem gepflegten, nach oben gezwirbelten Schnauzbart entgegen. Es war Wilhelm II., der deutsche Kaiser. Darunter stand in schwungvoller, nahezu künstlerisch wirkender Schrift: Für Gott, Kaiser und Vaterland. Zum ersten Mal in seinem Leben war Nikolai dankbar dafür, dass er in der Schule Deutsch gelernt hatte. Als er weiterblätterte, stutzte er. Er konnte kaum seinen Augen trauen. Es war ein Skizzenbuch, aber nicht irgendeines. Es zeigte fast ausschließlich Tänzerinnen und Tänzer in den verschiedensten Positionen und aus den verschiedensten Balletten. Manche befanden sich mitten in einem Sprung, andere vollführten Pliés an der Stange und wieder andere saßen auf dem Boden und banden sich gerade ihre Spitzenschuhe. All diese Szenen waren mit einem schnellen, zackigen Bleistiftstrich festgehalten worden, der so wirkte, als hätte es dem Künstler nicht die geringste Mühe bereitet, diese Zeichnungen anzufertigen. Von der Feuchtigkeit waren die Seiten gewellt und manche Skizzen verwischt, vor allem die anatomischen Studien, die sich den Darstellungen von Ballerinen und Ballerinos anschlossen.

Auf einer Seite befand sich ein blutiger Fingerabdruck. Nikolai legte seinen Zeigefinger darauf und stellte fest, dass er erstaunlich gut darauf passte. Ein Finger wie der seine. Ein Künstler wie er. Und vor allem: ein Mensch wie er. Kein Barbar, keine widerwärtige Kreatur, die es verdient hatte, getötet zu werden. Zum ersten Mal wagte Nikolai es, den Soldaten zu betrachten, neben dem er das Buch entdeckt hatte.

Er lag auf dem Bauch und trug wie die meisten anderen Deutschen eine Gasmaske. Nikolai hatte den Grund dafür noch nicht erraten, denn diese Stellungen waren nicht Ziel eines Chlorgasangriffes gewesen. Es war unmöglich, den Dienstgrad des Mannes zu erkennen, denn seine Uniform war vollkommen versengt und hing ihm in Fetzen von seinem geschundenen Leib. An vielen Stellen hatte das Feuer seine Haut so stark angegriffen, dass sie sich abgelöst hatte und das rötliche Schimmern rohen Fleisches zu erkennen war. Nikolai schluckte mehrmals, aber der Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, wollte nicht verschwinden. Eine seltsame Art der Traurigkeit überkam ihn und das an einem Ort, an dem täglich so viele Menschen starben. Es hätte ihn nicht kümmern sollen. Er kannte diesen Toten, der noch dazu sein Feind war, nicht einmal und doch fühlte er sich gewissermaßen mit ihm verbunden. 

Er hatte Balletttänzer gemalt. War er sogar selbst einer gewesen? So oder so war es eine grausame Verschwendung. Ein Mann mit einem solchen Talent sollte nicht im Morast eines Schützengrabens liegen, so schrecklich zugerichtet von den gierigen Flammen des Krieges, die alles und jeden verschlangen und alles Lebendige, alles Schöne verachteten. Nikolai sah hier keinen Gegner vor sich liegen, er sah lediglich ein menschliches Wesen, das ihm möglicherweise sehr ähnlich gewesen war. Er überlegte, ob er das Skizzenbuch behalten sollte, entschied sich jedoch dagegen. Immerhin wusste er nicht, ob der Mann es dort, wo er nun hingehen würde, noch gebrauchen konnte. Vorsichtig, als wäre es ein zerbrechliches Gebilde aus Porzellan, legte er es neben den Kopf des Gefallenen.

Der schwarze SchwanTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang