Kapitel 8 (1/3)

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»Sie wissen gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin, dass ich heute an einem Sonntag kommen durfte. Meine Rettung - so muss ich es nennen - Sie waren meine Rettung.«

Ein letztes Mal nahm ich den Arm der jungen Frau, um mir das Bild zu bestätigen, dass alles so saß und passte, wie es sollte. Dann rollte ich mit meinem Stuhl nach hinten und schaltete die grellen Lampen aus.

»Äußerstes Glück würde ich es nennen.« Meine Brille fand auf den Tisch und ich setzte mich zu den Dokumenten an jenem. »Es war nicht sehr tief und die Narbe wird bald kaum mehr zu sehen sein.«

Die Frau erhob sich und kam zu mir, nahm gegenüber Platz. Sie strich über ihren tauben Arm. »Es tut mir leid, Ihre Empfangsdame so belästigt zu haben. Ich habe sie einfach so lange vollgeredet, bis sie zugestimmt hat. Dafür werde ich mich auf jeden Fall revanchieren.«

»Ist schon gut.«, meinte ich und schrieb das Rezept für die Creme. »Dafür habe ich mir diesen Beruf nunmal ausgesucht.«

»Nicht jeder hätte so reagiert.«, wisperte sie traurig. »Wie gesagt, schon einmal hat mich der Hund meiner Freundin gebissen. Wenn ich jetzt ins Krankenhaus gegangen wäre - wer wüsste, was sie mit dem armen Labrador angestellt hätten? Dabei hat er nur so viel durch und weiß sich nicht anders zu helfen. Aber sie hätten ihn wahrscheinlich gleich als bedrohlich und unberechenbar angesehen.«

Kurz sah ich sie an, widmete mich dann aber schnell wieder meiner Aufgabe. Was sollte ich darauf schon erwidern?

»Sie sind ein toller Arzt, Mr Lain. So hilfsbereite und nette Leute wie Sie, gibt es selten. Die Frau, die mal an Ihrer Seite stehen darf, wird sich glücklich schätzen.«

Diesmal unterbrach ich mein Tuen und fing ihren Blick ein. Sie wusste doch gar nicht, worüber sie da sprach. »Loben Sie mich bitte nicht so, das ist mir ganz unangenehm.« Nett und hilfsbereit nannte sie mich, dabei war ich einfach nur das letzte. Ein feiger, selbstsüchtiger Kerl, der einen Jungen schlug und anschrie, weil er nicht wusste, wie er damit umzugehen hatte. Wenn sie das wüsste, würde sie mir wohl nicht mehr um den Hals fallen wollen.

»Entschuldigung.« Schnell ließ sie den Kopf hängen. »Mit einem Streuner, der so viele schlechte Erfahrungen in seinem Leben gemacht hat, weiß ich nur, wie viele Leute reagieren. Menschen können schon grausam sein, oder?«

»Ja...«, seufzte ich verletzt. Dabei konnte sie nicht wissen, wie gerade diese unbedachten Worte sich in mein Herz bohrten. »Menschen sind schon Scheusale.«

Mit ein paar Handbewegungen schrieb ich das Rezept fertig und reichte es meiner Patientin, die mir ein liebes Lächeln schenkte und winkend aus meiner Klinik trat. Seufzend erhob ich mich und schaute nach draußen. Ms Hutter und Killian waren noch nicht zurück. Was brauchten die so lange? Seit fast zweieinhalb Stunden gurkten die jetzt irgendwo herum.

Aus dem Mitarbeiterraum schnappte ich mir eine Schachtel Zigaretten und trat auf den Hof mit den umgekippten Mülltonnen und den halb geklauten Fahrrädern. Dann zündete ich mir das wenige Glück im Leben an und zog schaudernd den Kittel enger.

So schön und groß und beliebt New York auch war, so sehr spiegelte es sich auch hier im Hinterhof wider. Die Nachbarn waren irgendwelche unbekannte Personen, die man eigentlich nie sah, nur manchmal hörte man Rufe von oben. Auch wenn es vielleicht nicht der schönste Ort zum Arbeiten war, so hatte ich doch am Anfang viel kämpfen müssen und den kleinen Laden an der gut befahrenen Straße zu einem Ort gemacht, an den sich Leute wenden konnten, die Hilfe brauchten.

Mein heißer Atem vermischte sich in diesem kalt-feuchten Tag mit dem Rauch der Zigarette. Bedächtig pustete ich ihn aus und schloss die Augen.
Damals war ich noch ein Weltenverbesserer gewesen. Ein unreifer Tunichtgut, ein kleines Kind mit Wertvorstellungen, ein besserwisserischer Hallodri. Menschen helfen, ihnen einen neuen Weg zeigen, wenn sie verzweifelten, mich mit Hingabe um sie kümmern - davon hatte ich immer geschwärmt, oh ja. Wie bin ich am ersten Tag an der Uni mit dem breitesten und peinlichsten Grinsen durch die Gänge marschiert, mit so stolzgeschwellter Brust. Jedem, dem ich begegnete, habe ich erzählt, was ich mal werden wollte und wie ich mir die Zukunft ausmalte.

Ein wissendes Schmunzeln überkam mich. Wie musste ich wohl auf andere gewirkt haben? Vielleicht hatten sie mich für dumm gehalten oder für einen Tagträumer. Aber ich hatte fest an meine Träume geglaubt, diese Welt zu verändern.

»Niemand kann das...« Die Wand war kalt, trotzdem lehnte ich mich an sie und zog an meiner Zigarette. »Diese Welt spielt ein Spiel, das wir nicht verstehen.«

Du opfertest  dich auf, damit andere über dich trampeln konnten und schließlich auf dich spuckten. In dieser Welt konnte man nichts gutes tun, sie vernichtete alles liebe. Man konnte nur für sich alleine leben - oder für alle anderen.

»Der Lauf der Dinge.«

Ich drückte die Zigarette aus und wusch mir drinnen eifrig die Hände, sprühte mich ordentlich ein. Ms Hutter hasste es, wenn ich rauchte, dann wurde sie so unausstehlich, wie wenn sie nichts zu Essen bekam. Gruselig.

Weil ich ja immer noch alleine war, setzte ich mich ins Büro und vergrub die Nase in Schreibarbeiten. Ein paar fehlende Unterschriften hier, da und dort einige offene Rechnungen, neue Schreiben an die Kassen - zu tun gab es immer etwas.

Fast eine halbe Stunde arbeitete ich kontinuierlich alles ab, bis ich auf die Uhr an meinem Arm schaute und stutzig wurde. Wo blieben die denn? Hatten die einen Abstecher gemacht, oder was? Doch ich wollte auch nicht nerven und anrufen. Vielleicht wollte ich es für mich einfach nicht. Eigentlich wollte ich so wenig wie möglich an Killian denken.

Deshalb machte ich einfach weiter. Aus dem angrenzenden Dienstzimmer holte ich ein paar Patientenakten und heftete die Unterlagen von heute dort ein. Es lagen auch noch einige in der Ablage, weshalb ich alles gleich in einem Rutsch abarbeiten wollte. Bei dem Namen Skutch wurde ich allerdings stutzig. Anfangs war alles eingeheftet, von Bescheinigungen über Rezepte, doch hinten klebte noch ein Dokument mit dem Namen Williams. Kopfschüttelnd wollte ich das in Ordnung bringen, da stellte ich fest, dass auch bei Williams einige Sachen nicht so ganz stimmten.

Und als ich wenige Minuten später mit pochendem Kopf über die Ordner gelehnt stand, kam mir so langsam eine Idee, weshalb die ganzen Unterlagen durcheinander waren.

»Scheiße...«, murmelte ich gequält und fuhr mir mit fahrigen Bewegungen durchs Gesicht. Einfach alles wurde irgendwo hingeheftet. Ms Hutter hätte dafür keinen Grund, aber am Freitag - da war doch Killian hier, richtig?

»Ach verdammt!«, brüllte ich wütend
und schleuderte ein paar der Blätter auf den Boden. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lief durch den Raum. Das würde eine Ewigkeit dauern, alle falschen Blätter herauszufiltern und dann wieder richtig einzusortieren. Was hatte sich dieser kleine Plagegeist nur dabei gedachte!? Da war doch alles völlig durcheinander!!

»Was soll das?«, fragte ich mich selbst. »Da sitze ich zwei Tage dran!«

Zornig ging ich in den Mitarbeiterraum, wo ich mir erneut die Zigarettenschachtel aus der Jackentasche holen wollte. Allerdings hielt ich inne, als diese seltsam unnatürlich zitterte. Das klingelnde Handy holte ich skeptisch heraus und sah dann auf die unterdrückte Rufnummer. Weil es jemand aber eben schon nicht nach zwei Versuchen aufgegeben hatte, nahm ich an, bevor der Unbekannte noch mein Akku leerte.

»Hallo, ja? Mit wem spreche ich?«

»Polizeirevier Manhattan. Wir haben Kenntnis über einen Ladendiebstahl in der Hangout-Shopping-Mall. Spreche ich mit Mr Isaac Lain?«

Die Zigarettenschachtel fand gleich zurück in die Jackentasche und ich lehnte mich an die Kommode, weil ich spürte, wie meine Knie nachgaben. »...Ja?«

»Der Sklave mit der Registrierungsnummer 3855902119 wird des versuchten Diebstahls bezichtigt. Meine Kollegen sind vor Ort und wir würden Sie bitten, sich ebenfalls dorthin zu begeben.«

Mir fehlten die Worte. Ich öffnete die Hand, als könnte ich nach etwas greifen, das mir hier weiterhalf. Aber gerade war ich einfach nur sprachlos.

»Sind Sie noch dran, Sir? Das ist doch Ihr Sklave, oder?«

»Ich... weiß nicht genau.«, brabbelte ich. »Die Nummer, ähm...«

»Blonde Haare, grüne Augen und von kleiner Statur.« Der Mann am Ende der Leitung verstand worauf ich hinaus wollte. »Trifft das zu?«

»Ja...«, haucht ich. Der Mund trocknete mir mit jedem Buchstaben mehr aus. Was musste ich da schon wieder hören? »Bin gleich da, fahre sofort los.«

Mehr wartete ich gar nicht ab. Schlaff nahm ich das Handy vom Ohr und ließ meinen Arm baumeln, hörte ein paar zustimmende Laute und dann das Zeichen, dass der Mann aufgelegt hatte.

Die verzwickte Kunst des VertrauensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt