F O R T Y F O U R

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So vergingen die Tage, ohne, dass ich es überhaupt bemerkte.

Manche Dinge ändern sich wohl nie, dachte ich, während ich im Wartezimmer wartete bis ich aufgerufen werde. Diesmal war mein Vater dabei, er hatte darauf bestanden, weil es ja die Voruntersuchung für die Operation war und im Anschluss noch Sachen diesbezüglich geklärt werden. Und obwohl ich eigentlich gar keine Lust hatte, dass mein Dad das alles so mitbekommt, war ich doch froh ihn bei mir zu haben. Er gab mir ein Gefühl von Sicherheit, außerdem war er immer noch mein Vater, und ich wusste, dass er für mich da wäre, wenn etwas ist...

Im Endeffekt haben wir über drei Stunden in diesem Krankenhaus verbracht, nur um dann bestätigt zu bekommen, dass soweit alles in Ordnung ist, ich mir keine Sorgen machen muss und wir einen Termin für die Operation haben. Zweiundzwanzigster Februar, also in vier Wochen. Eigentlich hätte es nicht besser kommen können, so müssen Lewis und ich nicht unseren geplanten Trip nach Mailand absagen, und ich müsste an meinem Geburtstag nicht im Krankenhaus liegen...

Kaum waren wir wieder zuhause, rief ich Lewis an. Es wählte einmal, zwei mal und beim dritten Mal nahm er ab. „Hey, Schatz! Alles klar?" Ich schmiss mich aufs Bett und bejahte seine Frage. „Der Arzt meinte, dass alles super ist und wir uns keine Sorgen machen müssen..." Mein Blick flog nach draußen. Mit den Augen verfolgte ich die einzelnen Schneeflocken wie sie gegen meine Scheibe flogen und dort schmolzen. „Das ist, das ist super! Hat er auch etwas wegen der Operation gesagt?" Ich drehte mich auf den Bauch, zwirbelte eine Haarsträhne zwischen meinen Fingern und erzählte Lewis das, was er Arzt gesagt hat.

Wir unterhielten uns eine Weile bis Lewis schließlich auflegte um noch ein paar Sachen zu erledigen. Und um ehrlich zu sein, war mir das eigentlich auch ganz recht, ich hatte nämlich auch noch Pläne um den Tag abzuschließen.

„Ich bring Lewis noch kurz ein paar Sachen vorbei, die er gestern hier vergessen hat!" Rief ich ins Wohnzimmer, bevor ich mir die Schuhe anziehen ging. Natürlich war in der Tasche kein Zeug von Lewis, aber ich konnte meinem Vater auch schlecht sagen, dass ich ins Studio gehe um dort zu tanzen. Und zugegeben tat es mir auch leid, ihm so ins Gesicht zu lügen, aber das war eben die einzige Möglichkeit, dass er nichts davon erfährt.

Um meinem schlechten Gewissen nicht zu erliegen, versuchte ich mir einfach weiter einzureden, dass das schon okay war so. Der Arzt hat nichts gefunden, es ist alles gut, also, was soll schon passieren?

Das sagte ich mir immer wieder. Was soll schon passieren? So schlimm kann es nicht sein. Außerdem bin ich stärker als diese blöde Krankheit, ich bin stärker als jeder der mir sagt, dass ich es nicht bin. Diese Worte wiederholten sich immer wieder in meinem Kopf, während ich die Tanzschritte durchging. Plötzlich fühlte ich mich lebendig, ich fühlte mich wertvoll und vor allem dem fühlte ich mich gut. Zu wissen, den anderen das Gegenteil von dem zu beweisen, was sie sagen, ist mächtig. Dass ich damit aber nicht mehr tat als mich selber zu belügen, sah ich nicht mehr. Ich war viel zu gefangen in meiner Überzeugung, dass ich nicht mehr bemerkte was um mich herum geschieht. Dass ich jeden anlüge, nur um mein Ziel zu verfolgen. Und dieses Ziel war klar, ich sah es ganz scharf vor mir, auch wenn alles andere verschwommen war: Ich wollte endlich wieder als das gesehen werden, was ich bin. Ich wollte die Livia sein, die weiterkämpft auch wenn es schwer ist. Ich wollte das Mädchen sein, was ihre Eltern stolz macht, weil sie genau weiß was sie will. Ich wollte nicht mehr die mit der Krankheit sein, die, die aufpassen muss, dass sie sich nicht zu sehr anstrengt. Denn das war ich einfach nicht, das wollte ich nie sein.

Aber ich war viel zu fokussiert auf das und verlor dabei den Bezug zur Realität. Was ich damit anrichtete, wenn ich jeden in meinem Umfeld anlog, nur um mein eigenes Ding durchzuziehen. Es ist schon okay, dir geht es gut! Sagte meine innere Stimme und zog mich nur noch weiter in diese Spirale. Wäre ich vernünftig gewesen, hätte sie mir sagen müssen, dass ich aufhören soll. Aber das tat sie nicht. Stattdessen ging es immer so weiter. Tag für Tag, ich erfand Geschichten.

Zu meinem Vater sagte ich, dass ich bei Lewis bin, und Lewis erzählte ich, dass ich zuhause war und Sachen für die Schule erledige oder mich mit meinem Dad zum Essen verabredet habe. Sowas eben, aber nie die Wahrheit.

Und eigentlich hätte ich wissen können, dass sowas nicht ewig funktioniert, weil Lügen nämlich immer auffliegen. Aber ich konnte es einfach nicht mehr sehen, nein, ich wollte es nicht sehen. Ich verdrängte die Realität so lange, bis das Kartenhaus in sich selber zusammenstürzte und ich nur noch die Trümmer dessen betrachten konnte.

Toxic Love - the beginning of the end (Band 2) | Lewis Hamilton FFWhere stories live. Discover now