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A m a y a

Meine größte Angst ist es, eines Tages irgendwo in der Zukunft aufzuwachen und zu erkennen, dass es sich nicht gelohnt hat. Es hat sich nicht gelohnt zu überleben, nur um hier zu landen.

Und manchmal will ich schreien. Ich will diese Abscheulichkeit an die Oberfläche zerren und sie den Leuten vorwerfen, aber so bin ich nicht, also schlucke ich meine Stimme herunter, bis ich mich vollkommen verstummt fühle.

So geht das jetzt schon seit neun Jahren.
Seit neun Jahren lebe ich mit dem, was mein Cousin getan hat.

Davor hatte ich für acht Jahre ein ganz normales Leben.

Das mag ich zumindest zu denken.

Ich kann mich nicht mehr an vieles aus meiner Kindheit, meinem Leben erinnern. Die siebzehn Geburtstage, die ich bis jetzt gefeiert habe, Familienurlaube, wichtige Momente wie meine Einschulung oder meinen Grundschuldabschluss, sind fast alle weg.

Hier und da gibt es ein paar Bruchstücke, doch der Rest ist für mich so bedeutungslos, wie das Leben eines fremden Mädchens. Genau so fühlt es sich nämlich an; als würde ich im Körper einer Fremden leben.

Ich erkenne mich selbst kaum wieder.

Ich weiß nicht, was ich in meiner Freizeit gerne mache. Ich weiß nicht, was ich gerne esse oder trinke oder welchen Film ich am liebsten schaue. Ich habe keine Ahnung, welches Buch mein Leben verändert hat oder wer mein Lieblingskünstler ist. Ich frage mich, welche Art von Musik ich gerne höre. Was ich nach der Schule vor habe. Ob ich auf's College gehen oder einfach irgendeinem Job nachgehen möchte, der weder mir, noch anderen Menschen wirklich helfen wird und mich im Rest der ganzen Welt untergehen lässt.

Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich war so kurz davor, es herauszufinden, aber er hat mir alles genommen. Mit seinen Händen, seinen Lippen, seinem schweren Körper, hat er mir alles genommen.

Und er hat mir etwas gegeben.

Die Fähigkeit, so zu tun, als ob.

So zu tun, als ob ich nicht zerfallen würde, während ich anderen sage, dass es mir gut geht.
Als ob meine Wangen von dem falschen Lächeln auf meinen Lippen nicht schon weh tun würden, und als ob die selben Lippen nicht fast schon daran zerbrechen würden. Als ob meine Augen nicht drohen, zu platzen, während ich die Tränen weg blinzle, die einfach nur ausbrechen wollen.

Er hat mir die Fähigkeit gegeben, so zu tun, als ob ich ein normaler Mensch wäre. Ich versuche immer noch herauszufinden, ob ich ihn dafür lieben, oder hassen soll.

Im Moment siegt wahrscheinlich Ersteres. Wenn ich in der Schule bin, dann will ich einfach nur normal sein. Ich will den anderen nicht noch mehr Gründe geben, auf mir rumzuhacken.
Das ist schon so ihre Lieblingsbeschäftigung.

Es wundert mich also nicht, dass es mir nicht hilft, meine Kapuze aufzusetzen und nach der letzten Stunde mit gesenktem Blick zum Ausgang zu laufen. Sie finden trotzdem noch einen Weg, mir den Schultag - auch, wenn er bereits zu Ende ist - zur Hölle zu machen.

"Hey, Amaya!", höre ich eine tiefe Stimme nach mir rufen, doch statt stehen zu bleiben, beschleunige ich meinen Gang. Wenn ich so tue, als hätte ich ihn nicht gehört, dann lässt er mich vielleicht in Ruhe.

Innerlich schüttle ich den Kopf über meine eigene Naivität. Inzwischen müsste ich wissen, dass es nicht hilft, Adam Carter zu ignorieren. Das macht alles nur noch schlimmer.

Deswegen greift er auch gewaltsam nach meinem Arm und zieht ein mal fest dran, damit ich mich zu ihm umdrehe. Ich gebe ihm, was er will, entziehe meinem Arm seiner brennenden Hand jedoch sofort wieder. Adam lacht daraufhin nur auf.

StormOù les histoires vivent. Découvrez maintenant