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A m a y a

Ich kann nicht einmal verarbeiten, was in den letzten dreißig Sekunden passiert ist, als Levi's nächsten Worte mich treffen.

"Er hat einen Brief von der Schule bekommen."

Und das ist es. Die Stimmen fangen nicht an zu reden, bei diesem Mal schreien sie.

Deine Schuld! Deine Schuld! Deine Schuld!

"Ich war oben in meinem Zimmer und er hat mich runtergerufen und dann-" Seine Stimme bricht und er muss schwer schlucken, spricht danach jedoch nicht weiter.

Eine weitere Träne löst sich aus seinem Augenwinkel, die er mit dem Ärmel seines Pullovers sofort auffängt. Er schüttelt seinen Kopf, als würde er sich selbst sagen wollen, dass er aufhören soll zu weinen. Und dann gibt es für den Rest seiner Tränen keinen Halt mehr. Er löst sich aus meinem Griff, um seine Fäuste auf seine Augen zu legen.

"Ich hasse ihn", spricht er vor sich hin. "Ich hasse ihn. Ich hasse ihn." Immer wieder.

Meine Schuld! Meine Schuld! Meine Schuld!

Dieses Gefühl ummantelt mich wie Nebel eine Dämmerung.

Levi vergräbt sein Gesicht in seinen Händen, atmet zittrig ein. Dann springt er auf. Läuft hektisch in meinem Zimmer rum, seine Hände in seinen Haaren vergraben und sein Blick überall, außer auf mir.

Ich warte nicht darauf, dass er irgendetwas sagt. Das muss er nicht. Ich weiß, was er gerade fühlt. Zu viel auf einmal. Zu wenig. Es ist zu laut und zu leise und er denkt, es nicht mehr zu schaffen. Also stehe ich einfach auf, stürme auf ihn zu und schlinge meine Arme um seinen Bauch.

Plötzlich bin ich wieder zwölf Jahre alt und umarme meinen besten Freund zum aller ersten Mal, dieses komische, unerklärliche Kribbeln in meinem Bauch und ein schlechtes Gewissen, welches mich plagte. Es hat uns ein Jahr Freundschaft gebraucht, bis wir uns zum ersten Mal umarmt haben. Ich wollte es nie. Ich wollte niemanden berühren, nicht berührt werde. Aber dann stand ich vor Levi's Tür, und ich denke, wenn es leise genug wäre, würde ich seine Schreie noch immer hören können.

Ich habe ihm nie davon erzählt, was ich an diesem Tag mitbekommen habe. Oder davon, dass ich zwei Wochen danach nicht schlafen konnte. Er weiß bis heute nicht, dass ich meine Mutter angefleht habe, mit mir zur Polizei zu gehen, damit wir seinen Vater anzeigen können. Sie hat mir nicht geglaubt. Sie hat mir nie geglaubt.

Die Blackwell's hatten ihre Haustür - wieso auch immer - zu der Zeit nie abgeschlossen, also habe ich mich einfach selbst reingelassen und bin nach oben in Levi's Zimmer gerannt. Er hat zum Glück nicht bemerkt, wie sehr ich gezittert oder geweint habe, weil er selbst so stark am zittern und weinen war, dass die ganze Welt für ihn wahrscheinlich nur noch ein einziges, flimmerndes, verschwommenes Etwas war.
Er hat sich hinter seinem Schrank versteckt. Es war so eng, selbst Levi hatte kaum Platz, aber ich habe mich einfach zu ihm gesetzt und meine Arme um ihn gelegt.

Wir beide hatten kaum Platz, um überhaupt richtig zu atmen, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, eine ganze Galaxie in meinen Armen halten zu können. Noch nie hatte sich etwas so Falsches, so richtig angefühlt. Noch nie wollte ich so laut schreien, und gleichzeitig lachen. Noch nie waren die Tränen auf meinen Wangen so erstickend, und zugleich befreiend. Und als Levi dann nach genau drei Minuten und elf Sekunden realisiert hat, was passiert und meine Umarmung erwidert hat, haben wir uns so fest gehalten, als wäre die ganze Welt hinter uns her. Weil es sich so angefühlt hat.

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie lange wir so saßen, aber ich weiß noch, dass wir beide danach erst einmal für eine lange Zeit flach auf dem Boden liegen mussten, weil unsere Gelenke durch die Postionen davor einfach nur noch taub waren und gar nicht mehr gearbeitet haben. Dafür haben es unsere Herzen umso stärker getan. Wir lagen dort einfach und haben zwischen Lachen und Weinen hin und her gewechselt. Irgendwann hat Levi mir erzählt, dass er nicht darüber reden möchte, warum er so traurig war, und ich habe ihm erzählt, dass ich zuvor-vor ihm-noch nie jemanden umarmt hatte. Nicht einmal meine eigene Mutter. Nicht einmal, als ich noch ganz klein war und mich verletzt hatte.
Ich weiß noch, dass er sich aufgesetzt und mich einfach angesehen hat, als hätte ich etwas Schlimmes gesagt. Dabei fand ich es nicht schlimm. Er hat mir gesagt, dass es ihm leid tut, und das hat mich so wütend gemacht. Ich habe ihm gesagt, ich würde sein Mitleid nicht wollen.

StormWhere stories live. Discover now