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A m a y a

Ab jetzt bin ich auf mich alleine gestellt. Levi hat mich bis vor das Schulgebäude gebracht, mir gesagt, dass ich ihn anrufen soll, wenn ich ihn brauche, und ist dann gegangen.

Ich habe ihm verheimlicht, dass ich mein Handy Zuhause vergessen habe. Er hätte wahrscheinlich darauf bestanden, es zu holen und mir vorbeizubringen, und wie ich ihn kenne, hätte er sofort bemerkt, was ich so verzweifelt zu verstecken versuche.

Ich habe mich auch dazu entschieden, ihm nichts von dem Gespräch mit meinem Vater zu erzählen. Ich will ihm keine falschen Hoffnungen machen. Nicht meinem besten Freund, und erst recht nicht meinem Vater.
Er konnte uns bis jetzt schon aus vielen Situationen raushelfen. Er hat Lehrern Glauben in uns eingeredet, wenn sie ihn schon längst verloren haben, hat Elternbriefe für Levi abgefangen, bevor sie sein Zuhause erreichen konnten und nie einen Grund dafür verlangt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das alles zu einem Ende gekommen wäre.

Das hier ist selbst für ihn zu groß. Keiner kann geradebiegen, wobei die Polizei versagt hat. Und ganz im Gegensatz zu Levi fällt es mir schwer, an Arian's Plan zu glauben. Egal, wie sehr ich es möchte. Ich will daran glauben können, dass es jemanden gibt, der Levi helfen möchte, aber ich sorge mich um ihn. Und Vicky. Gott, Vicky.
Ich will nicht daran denken, keine Vermutungen aufstellen oder wissen, was passiert ist, bis sie nicht selbst bereit ist, mit mir darüber zu reden. Ich will ihr diese Möglichkeit nicht nehmen, weil ich sie selbst nie hatte. Ich habe bloß so Angst. Ich habe Angst. Je öfter ich es sage, desto schlimmer wird es, gewinnt immer mehr Macht über mich. Ich fühle es in meinem ganzen Körper, der wie versteinert an die Wand hinter der Schule gelehnt ist.

Levi ist geblieben, bis er sich sicher sein konnte, dass ich wirklich in das Gebäude laufe, doch kurz hinter den Toiletten bin ich abgebogen und einfach gerannt. Zu dem Zeitpunkt waren zum Glück nur vereinzelte Schüler unterwegs, die ich noch irgendwie ausblenden konnte. Inzwischen kann ich jedoch das gemischte Chaos von mindestens über hundert stimmen hören, die mein Herz immer schneller schlagen lassen. Jetzt noch darein zu gehen kommt nicht in frage. Ich denke, lebendig verschlungen zu werden, wenn ich es tun würde.

Also schließe ich meine Augen, halte die Luft an und zähle bis drei.

Wenn ich meine Augen erst einmal wieder öffne, dann wird es nicht mehr so weh tun. Zumindest kann ich mir das einreden.

Ich kann meinen eigenen Körper runterfahren spüren. Wissend, dass es im Endeffekt nur so viel mehr wehtun wird. Wenn ich plötzlich wieder in die Realität gezogen werde, wird es mich von innen bis nach außen aufreißen, doch so lange kann ich wenigstens so tun, als ob.

Als ich bei Sekunde zwei angekommen bin, spüre ich die Tränen auf meinen Wangen nicht mehr. Ich versuche, sie mit meinen Händen aufzufangen, doch auch das kann ich nicht mehr spüren. Das Lächeln auf meinen Lippen kommt wie von selbst.
Ich konnte uns beide immer davon überzeugen, dass es mir gut geht.

"Amaya?", bilde ich mir ein, eine weibliche Stimme zu hören.

Nur noch eine Sekunde, und dann wird sie auch verschwunden sein. Aber dann sind drei Sekunden vergangen, und ich höre sie immer noch.

"Hey, was ist los?"

Ich spüre eine Hand auf meinem Arm. Ich reiße meine Augen auf und stolpere einen Schritt nach hinten.

Das hätte nicht passieren dürfen. Noch nicht. Ich wollte diese drei Sekunden. Meine drei Sekunden. Das Einzige, was jemals mir gehört hat. Es hätte nicht passieren dürfen, verdammt. Und Nova sieht mich an, als wüsste sie das.

"Alles gut", lüge ich. Ich kann ihre Hand noch immer auf meinem Arm brennen spüren, die Niederlage tief bis unter meine Haut gehend.

Sie legt ihren Kopf schief und lächelt traurig.
Ich kann sie nicht davon überzeugen, dass es mir gut geht. Das scheint sie auch nicht zu erwarten.

StormWhere stories live. Discover now