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L e v i

Der nächste Morgen verläuft genau so, wie jeder andere; Ich versuche, das Haus zu verlassen, noch bevor meine Eltern aufwachen.

Bei diesem Mal läuft aber tatsächlich etwas anders.

Ich scheitere.

Meine Mom schafft es noch ganz knapp, mich an meinem Motorrad abzufangen. Und dabei bin ich heute extra früher rausgegangen, weil ich vor der Schule noch ein anderes Ziel habe.

"Valerian, warte bitte!", ruft sie hinter mir her und zieht ihren Bademantel enger um ihren Körper, während sie mit schnellen Schritten auf mich zuläuft, ihr Blick auf den Boden gerichtet. Und es ist diese eine, kleine Geste, die mir verrät, was sie von mir will, bevor ihre Tränengefüllten Augen es tun können, als sie vor mir stehen bleibt und ihren Blick hebt.

'Erzähl niemandem davon, Valerian.'
'Zeig niemandem deine Verletzungen, Valerian.'
'Rede mit niemandem über deinen Vater, Valerian.'
'Wenn dich jemand danach fragt, was sagst du dann, Valerian?'

"Ich bin gefallen", antworte ich reflexartig. Meine Mom reißt ihre Augen leicht auf, sichtlich überrascht darüber, dass ich eine Frage beantwortet habe, die sie noch gar nicht gestellt hat. Und mindestens genauso dankbar.

Wahrscheinlich gilt ihre Dankbarkeit nicht einmal wirklich meiner Antwort, sondern viel eher der Tatsache, dass ich sie davor bewahrt habe, die Frage überhaupt stellen zu müssen. Sie hasst es, die Dinge wieder geradebiegen zu müssen, die mein Vater verbockt hat. Ich hasse es mindestens genauso sehr.

Ich will einfach nicht, dass sie in das alles mit reingezogen wird. Meine Eltern streiten sich zwar tagtäglich, aber mit ihr scheint mein Vater sich noch unter Kontrolle halten zu können. Ich bete jede Nacht dafür, dass es so bleibt. Ich würde es nicht ertragen, wenn er ihr etwas antun sollte.

Ich kann es ja schon kaum ertragen, wenn sie hier vor mir steht, so in sich selbst zusammengekauert, weil die Schuld meines Vaters schwer auf ihren Schultern lastet.

"Ist schon okay, Mom", sage ich also und schlucke dieses widerliche Gefühl in mir runter. Dieser lächerliche Wunsch, nur ein einziges Mal ihre Hilfe zu bekommen. Diese egoistische Hoffnung, dass sie nur ein einziges Mal auf meine Schreie hört. Dieser absurde Traum, der seit Jahren fast jede Nacht aufkommt.

Er fängt immer gleich an; Sie holt mich mitten in der Nacht aus dem Bett, unsere gepackten Taschen bereits im Auto. Es ist stockdunkel, also müssen wir ganz genau aufpassen, wo wir hintreten. Ich stoße mir jedes Mal meinen Kopf an meiner Deckenlampe, also greift meine Mom nach meiner Hand und führt mich aus meinem Zimmer. Auch der Rest der Hauses ist stockdunkel. Wenn wir vor der Treppe stehen bleiben, gibt es mehrere Richtungen, in die der Traum verlaufen könnte.

Wir werden entweder von meinem Vater bei unserem Fluchtversuch erwischt und der Traum endet, während seine Faust auf mein Gesicht zukommt. Manchmal schaffen wir es auch runter, ohne bemerkt zu werden, stehen dann aber vor einer verschlossenen Tür, die sich durch Nichts öffnen lässt. Oder wir schaffen es wirklich raus.

Ich hasse jeden dieser möglichen Endungen. Selbst die Letzte.

Wir schaffen es zwar raus, doch wenn ich mich dann umdrehe und auf unser Haus zurückblicke, bemerke ich erst, dass es brennt. Die heißen Flammen bringen die Fenster in jedem einzelnen Raum zum platzen, zerlegen die schlimmsten Erinnerungen meines Lebens in Schutt und Asche. Und ich stehe bloß da und sehe mir alles an. Die Tränen auf meinen Wangen sind das Schlimmste daran. Ich trauere um ein Haus, welches mir meine Kindheit genommen hat. Ich trauere um eine Kindheit, die ich nie hatte.

Ich trauere, weil ich in einem brennenden Haus aufgewachsen bin, und es nicht einmal bemerkt habe. In einem brennenden Haus aufzuwachsen, lässt das Gefühl aufkommen, die ganze Welt stünde in Flammen. Und plötzlich ist alles, was du dachtest, jemals zu wissen, einfach so weg. Es verliert sich in dem Feuer und verteilt sich als dunkler Rauch in der Luft, treibt es immer mehr von dir weg.

StormWhere stories live. Discover now