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L e v i

"Denkst du, ich kann bald wieder nach Hause kommen?"

Das ist die Frage, mit der Vicky jedes unserer Gespräche anfängt. Und die Frage, auf die ich bis jetzt noch nie eine klare Antwort hatte.

"Ich gebe alles dafür. Das verspreche ich dir."

Diese acht Worte hinterlassen bei jedem einzelnen Mal einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge. Aber vor allem heute.

Weil ich versagt habe.

Weil ich nicht nur mich enttäuscht habe, sondern auch Vicky und Amaya.

"Ich weiß, ich weiß. Ich vermisse euch nur so schrecklich", ertönt ihre brüchige Stimme direkt an meinem Ohr. Ich verziehe mein Gesicht gequält und halte mein Handy etwas von mir weg, damit sie mein erschöpftes Schluchzen nicht hört.

Wenn ich ihre Stimme höre, dann sehe ich das kleine Mädchen vor mir, das mich immer gezwungen hat, mit ihren Puppen zu spielen oder an ihren Teeparty's teilzunehmen. Ich sehe meine kleine Schwester, der ich geschworen habe, sie mit meinem Leben zu beschützen. Und im Endeffekt sehe ich mich, wie ich daran scheitere.

Ich habe alles gegeben und es war nicht genug. Ich habe es versucht und ich habe jeden Menschen um mich herum enttäuscht und ich habe es erneut versucht und es war nicht genug.
Ich wollte die Dinge ändern und es war nicht genug. Ich habe die Situation schlimmer gemacht, als sie es sowieso schon war, weil ich Vicky das Gefühl gegeben habe, ich wäre stark, und weil ich Amaya das Gefühl gegeben habe, sie würde mir nichts bedeuten.

Am Anfang habe ich mir noch einreden können, dass das alles einen Grund hat. Dass ich alles wieder in Ordnung bringen werde und diese ganzen, furchtbaren letzten Monate einen Sinn haben werden. Jetzt weiß ich, dass nichts davon stimmt.

"Valerian?", reißt Vicky's Stimme mich aus meinen Gedanken.

Ich atme tief durch und halte mein Handy wieder an mein Ohr.

"Du fehlst uns auch", krächze ich. "Du hast ja keine Ahnung, wie sehr."

Ich wollte ihr nie zeigen, wie sehr ich unter allem zerbreche. Ich wollte stark für sie sein. Aber das bin ich nicht. Ich habe es nicht verdient, der Held in ihren Augen zu sein.

Ich vermisse sie einfach nur. Ich vermisse ihr lautes Gesinge, das man schon hören konnte, wenn man vor unserem Haus stand. Ich vermisse ihr verrücktes Getanze, wenn unsere Eltern mal nicht Zuhause waren und wir das ganze Haus auf den Kopf gestellt haben. Ich vermisse ihre schlechten Witze, für die sie Nächte über Nächte lachend in mein Zimmer geplatzt ist, weil sie mir unbedingt von ihnen erzählen wollte. Ich vermisse ihre Lebensfreude.

"Ich will nicht mehr traurig sein. Erzähl mir etwas Schönes", sagt sie. "Erzähl mir von Amaya."

Dass sie etwas Schönes mit Amaya in Verbindung bringt hat zwei Gründe.
Der Erste wäre, dass es einfach der Wahrheit entspricht. Alles schöne in meinem Leben hängt entweder mit meiner Schwester oder Amaya zusammen. Und der Zweite: Sie weiß, wie unsterblich ich in meine beste Freundin verliebt bin. Sie ist die einzige, die es weiß. Dabei habe ich ihr nie davon erzählt oder offen darüber mit ihr gesprochen. Sie hat mich einfach eines Tages angesehen, als ich wiederkam, nach dem ich Amaya nach Hause gebracht habe, und sie wusste es. Sie hat schon vor der Haustür auf mich gewartet, um mir diesen Du-kannst-mich-nicht-belügen Blick zuzuwerfen. Aber da war auch dieses breite Lächeln auf ihren Lippen, weil sie sich nichts sehnlicher gewünscht hat, als Amaya und mich zusammen.

Meine Schwester ist zwei Jahre jünger als ich, und nur ein Jahr jünger als Amaya, also haben die beiden sich schon immer gut verstanden. Schon vom ersten Tag an waren die beiden zusammen unberechenbar.

StormWhere stories live. Discover now