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A m a y a

Anderen zu vertrauen ist vergleichbar damit, ihnen ein Messer in die Hand zu legen.
Man gibt ihnen zwei Möglichkeiten; Sie nutzen dieses Messer, um dich damit zu beschützen, oder sie rammen es dir gnadenlos in den Rücken.

Bis jetzt hat jeder Mensch in meinem Leben mir immer wieder beim verbluten zugesehen.

Mein Cousin hat mich nur dann um mein Vertrauen gebeten, wenn er mir weh tun wollte. Er hat mir ins Gesicht gelächelt, während er die Klinge seines Messers geschärft hat. Er hat mir versprochen, mich niemals zu verletzten, und dann hat er dieses Versprechen noch gebrochen, bevor ich überhaupt anfangen konnte, daran zu glauben.

Das ging vier ganze Jahre lang so. Für zwei Jahre davon war Levi das Schutzschild für mein Herz, das mein Körper nie hatte. Ich habe ihm nie erzählt, was passiert ist, aber das musste ich auch nicht. Für ihn war ich schon immer viel mehr als das, was andere mir angetan haben.

Ich kann mich noch ganz genau an unser erstes Gespräch erinnern. Ich war damals elf Jahre alt und hatte noch keine Freunde an meiner neuen Schule gefunden, also saß ich in der Pause alleine vor dem Klassenzimmer und habe mein Essen vollgeweint. Am Ende war mein Brot sogar schon so durchnässt, dass es sich langsam aufgelöst hat. Wenn das möglich ist. Vielleicht war meine Sicht durch die Tränen auch nur so verschwommen, dass ich mir irgendetwas eingebildet habe.

Irgendwann kam dann plötzlich dieser Junge mit den hellen, unordentlichen Haaren um die Ecke gelaufen und hat sich zu mir gesetzt. Ein paar Minuten lang war es völlig still. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und er wollte wahrscheinlich einfach nichts sagen, also saßen wir bloß schweigend nebeneinander. Und das war in Ordnung so. Es war nicht unangenehm. Ich war einfach traurig und er war da und das war Alles in diesem Moment. Nach einiger Zeit hat er angefangen, in seinem Rucksack zu wühlen, bis er eine weiße Papiertüte rausgeholt und sie mir hingehalten hat.

"Ich bin manchmal auch traurig", meinte er nur.

Ich habe die Tüte an mich genommen und sein unversehrtes, vor Tränen bewahrtes Essen ausgepackt. Und dann habe ich noch stärker geweint.

Ihm hat das nichts ausgemacht. Er ist trotzdem bei mir geblieben und hat mir die ganze Zeit versichert, dass es in Ordnung ist, zu weinen, während wir uns sein Essen geteilt haben. Er meinte, ich sollte es so lange tun, wie ich es noch durfte. Erst später habe ich herausgefunden, dass er das gesagt hat, weil sein Vater ihm verboten hatte, zu weinen. Wenn er sich nicht daran gehalten hat, wurde er bestraft. Er hat nie gerne über seinen Vater geredet. Das tut er bis heute nicht.

Mein mysteriöser Frühstücksretter wollte mir seinen Namen damals nicht verraten, weil er ihn nicht mochte, also habe ich ihm versprochen, mir einen Spitznamen für ihn auszudenken, wenn er ihn mir verrät. In der selben Sekunde, in der er Valerian gesagt hat, kam Levi aus mir geschossen. Ich weiß nicht einmal wieso, aber irgendwie hat es einfach gepasst. Ab dem Moment an waren wir beste Freunde. Wir haben jede Pause, jede freie Sekunde zusammen verbracht. Es war so einfach mit ihm zu existieren.

In der Schule konnte ich mit Levi ein ganz normales Mädchen sein. Er hat in mir nicht das Mädchen gesehen, das im Unterricht ständig eingeschlafen ist oder nie die Hausaufgaben gemacht hat. Er hat nicht die gesehen, die viel zu oft geweint oder mit keinem geredet hat. Er hat Amaya gesehen. Sie hat es so lange gegeben, bis mein Cousin zwei Jahre später weggezogen ist. Einfach so.

Ein Teil in mir wusste, dass ich mich hätte freuen sollen. Ich musste sein Spiel endlich nicht mehr mit ihm spielen. Ich habe es nie wirklich begriffen. Ich kannte die Regeln nicht. Ich musste ihn nicht mehr in den kalten, dunklen, Keller begleiten. Es war vorbei. Es war vorbei.

StormWhere stories live. Discover now