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A m a y a

Ich drehe mich erschrocken um, meine Bewegung so hastig, dass meine Schulter direkt in Levi's Brust knallt. Diese Erkenntnis und der schmerzerfüllte Laut, den er von sich gibt, treffen mich viel zu stark für mein sowieso schon schwaches Herz und meine wackligen Beine. Das alles resultiert darin, dass ich es im stehen irgendwie zustande bringe, zu stolpern. Oder vielleicht schafft mein Körper es nach den Geschehnissen der letzten Stunden nur einfach nicht mehr, sich selbst aufrecht zu halten. Was auch immer gerade mit mir passiert, es ist so mächtig, dass Levi nach meinem Oberarm greifen und mich stützen muss, damit ich nicht hier und jetzt zu Eins mit dem Boden werde.

"N-nichts, alles gut", zwinge ich es aus mir heraus und setze ein falsches Lächeln auf, doch meine Stimme klingt nicht einmal halb so überzeugend, wie ich es beabsichtigt habe. Dafür bin ich mir der Präsenz meines besten Freundes viel zu sehr bewusst. Auch meiner Mutter scheint das nicht zu entgehen, denn meine Worte prallen an ihren Ohren ab und brechen durch ihre Augen hindurch, die Levi's Hand an meinem Arm fixieren. Es scheint also jeder zu bemerken, wie das hier aussieht. Jeder, außer Levi selbst.

Als ich mich also aus seinem Griff losreiße bin ich unfassbar froh darüber, dass er hinter mir steht. So kann er wenigstens mein brennendes und wahrscheinlich knallrotes Gesicht nicht sehen. Immerhin gibt es keinen Grund für mich, verlegen zu werden, wenn mein bester Freund mich berührt. Wir haben das schon so oft getan und dieses Mal ist nichts anders, als sonst. Oder?

"Valerian wollte nur sein Buch abholen", lüge ich und versuche, meinen Kopf auf andere Gedanken zu bringen. Mein Blick fliegt panisch durch meinen Raum und bleibt zu meinem Glück genau an dem Erdkundebuch hängen, das auf meinem Schreibtisch liegt. "Ich habe es heute nach dem Unterricht aus Versehen eingepackt."

Lüge, Lüge, Lüge.

Levi und ich haben getrennte Kurse, keiner von uns hatte heute Erdkunde, und ich kann mich mich nicht an das letzte Mal erinnern, als er das Buch freiwillig geöffnet, geschweige denn nur angefasst hat. Hier ist nämlich eine Wahrheit: wir beide hassen Erdkunde. Wir hassen es. Ein starkes Wort, das hier definitiv zutrifft.

Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Levi sich ein Lächeln verkneifen muss, als ich ihm das Buch in die Hand drücke.

"Wow, endlich habe ich es wieder", spielt er pure Erleichterung vor, und ich sag mal so; Levi ist kein guter Schauspieler. Zumindest nicht, wenn es um solche Dinge geht.

Er will doch, dass wir auffliegen, oder? Er hält das Buch an seine Brust gedrückt und wendet sich mit einem breiten Lächeln an meine Mutter, die mich böse mustert.

"Ihr denkt also wirklich, ich würde euch das abkaufen?", fragt sie fast schon beleidigt und lässt ihren Blick ein paar Mal zwischen Levi und mir hin und her wandern.

"Wir denken es nicht wirklich, wir hoffen es viel eher", antwortet Levi gelassen, und ich glaube, Rauch aus den Ohren meiner Mutter kommen zu sehen.

Wäre ich gerade nicht so peinlich berührt, würde auch bei mir nicht mehr viel bis zu einem Ausbruch fehlen. Unsere offensichtliche Lüge und Levi's Verhalten lassen es doch nur so aussehen, als hätten wir etwas Verbotenes getan. Gott, vielleicht haben wir das ja auch. Vielleicht ist die Reaktion meiner Mutter vollkommen angebracht und wir sind diejenigen, die hier falsch liegen.

Zumindest scheint meine Mutter das genauso zu sehen, denn sie schüttelt ihren Kopf immer wieder, während sie entsetzt zwischen uns hin und her sieht.

Ihr missbilligender Blick reißt mich vier Jahre in die Vergangenheit zurück. Levi und ich waren damals vierzehn und fünfzehn Jahre alt, und unsere Eltern wurden mit jedem Jahr nur noch misstrauischer, was unsere Freundschaft betraf.

StormWo Geschichten leben. Entdecke jetzt