Der Fremde

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Louis versuchte alles, was ihm einfiel, um sich selbst aus dem Loch zu befreien, doch er schaffte es einfach nicht. Er hatte die Äste aufgeschichtet, in der Hoffnung, die als Leiter nutzen zu können, doch das Loch war einfach zu tief, außerdem war die Erde so krümelig, dass sie ihm unter den Fingern wegbrach und er immer wieder auf den Boden der Grube zurückfiel. Trotzdem gab er nicht auf, sondern kämpfte weiter, obwohl er keine Kraft mehr hatte und ihm vor Anstrengung schon ganz schwindelig war, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, wenn er dem Besitzer dieser Grube entkommen wollte.

Als die Sonne aber aufging und der Wald über der Grube langsam heller wurde, war Louis vollkommen am Ende seiner Kräfte. Er hatte aufgegeben – sollte man ihn doch töten – es war ihm alles egal. Sein Körper war ausgelaugt, sein Magen leer und tat schon richtig weh vor Hunger und seine Kehle war so trocken, dass sogar das Schlucken schmerzte.

Der Regen hatte nachgelassen, zumindest war das Rauschen der Regentropfen nicht mehr zu hören.

Louis setzte sich auf den matschigen Boden und machte sich ganz klein. Hoffentlich kam heute Niemand, um die Grube zu kontrollieren. So schlecht es ihm momentan ging – sterben wollte Louis nun doch noch nicht. Seine Hand zitterte und sein verletzter Daumen fühlte sich heiß und geschwollen an, als er die Hand hob, um sich nasse Haarsträhnen aus den Augen zu streichen.

Wenn doch nur seine Eltern noch am Leben wären.

Vor seinen Augen verschwamm alles, als er in Gedanken einige Jahre zurückreiste.

Sie hatten in einem kleinen Haus gelebt, zu dem auch Ackerland gehört hatte. Zusammen mit seinem Vater, war Louis täglich auf dem Acker gewesen, hatte die Erde umgepflügt und bestellt. Obwohl die Ernte nicht sonderlich reichhaltig ausgefallen war und die kleine Familie jeden Winter gerade so über die Runden gekommen war, hatten sie doch zusammengehalten und Louis hatte sich sicher und behütet gefühlt. Doch irgendwann war sein Vater krank geworden und gestorben, seine Mutter kurz darauf und Louis war allein gewesen. Den Acker und das Haus konnte er allein nicht mehr halten und hatte er schweren Herzens an die Nachbarn abgegeben, die ihn im Gegenzug dafür einige Zeit ernährt hatten. Doch im nächsten Frühling waren sie der Meinung gewesen, dass ihre Schuld für das Haus beglichen war und Louis hatte weiterziehen müssen. Seitdem war er von Dorf zu Dorf gezogen und hatte als Erntehelfer, oder Schafhirte den Bauern seine Dienste angeboten. Nur selten war er mit Talern dafür entlohnt worden, meistens gab es eine warme Mahlzeit und einen Platz zum Schlafen, doch das war kein Leben für Louis gewesen. Kein Zuhause zu haben setzte ihm mehr zu, als er eigentlich zugeben wollte. Wie gerne hätte er wieder Jemanden bei sich, der ihn ab und an in den Arm nehmen würde und ihm sagte, dass er wichtig war. Doch er war Niemandem mehr wichtig und das machte ihn manchmal wirklich traurig. Wie gerne würde er wieder mit seinen Eltern sprechen können, sie in den Arm nehmen und sie darum bitten, ihn nicht zu verlassen. Doch es ging nicht, denn sie waren tot und er würde sie nie mehr wieder sehen.

Louis schluckte den Knoten herunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte und unangenehm drückte, dann riss ihn ein Geräusch aus seinen Gedanken: knackende Äste und das Rascheln von Blättern auf dem Waldboden. Jemand oder Etwas näherte sich der Grube und Louis Herz fing ganz schnell an zu schlagen. Vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, setzte er sich ein wenig aufrechter hin und lauschte, vielleicht gelang es ihm zu erraten, ob sich ihm ein Mensch, oder ein Tier näherte. Die Schritte waren gleichmäßig und bedacht. Kein Wolf oder Wildschwein würde sich so bewegen und er war sich schnell sicher, dass sich da ein Mensch auf ihn zubewegte. Die Schritte kamen immer näher und das Gefühl hier in diesem Loch zu sitzen und nicht weglaufen zu können war unbeschreiblich. Wie gerne hätte er jetzt Flügel gehabt und wäre davon geflogen, doch er war dazu verdammt auf dem kalten Erdboden zu sitzen und darauf zu warten, dass die Person, die sich ihm näherte, den Kopf über den Rand der Grube schob und ihn sah.

Der verlorene KönigWhere stories live. Discover now