Auf der Suche

306 75 5
                                    

Den Blick immer auf den Boden gerichtet, ging Louis durch den Wald. Die Abdrücke der Pferdehufe waren immer schwerer zu erkennen, weil die Sonne langsam unterging und das Licht immer schlechter wurde. Als er nicht mehr genau erkennen konnte, ob es sich bei der Mulde im Boden um einen Hufabdruck oder ein einfaches Loch handelte, blieb Louis stehen und dachte nach. Wohin könnte Harry sich geflüchtet haben? Er kannte den Wald viel besser als Louis, aber vielleicht hatte er sich ja an einen Ort zurückgezogen, der Louis auch in den Sinn kam. Müde vom langen Fußmarsch lehnte er sich an einen Baum und dachte nach: vielleicht hatte Harry sich in eine Höhle zurückgezogen, dort wäre er vor der Kälte der Nacht und wilden Tieren sicher und auch ein Lagerfeuer würde nicht auffallen. Doch wo gab es Höhlen? Zuerst dachte Louis an die Höhle, die die Merry Men als Lager benutzten, doch vielleicht hatte Harry Angst, dass die Jungs ihn dort suchen würden. Louis dachte an den Felsen, auf dem er eine Nacht verbracht hatte, als er allein auf der Flucht gewesen war. Vielleicht war Harry ja dorthin gegangen. Doch in welche Richtung musste er gehen, um den Felsen zu finden? Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er gerade keine Ahnung, wo er sich befand. Louis seufzte und zog sich seine Kapuze über, denn langsam wurde es kühl. „Harry, wo bist du..." murmelte er mehr zu sich selbst und seufzte. Er konnte verstehen, dass der Lockenkopf allein sein wollte, aber er hatte auch große Angst, dass er sich vielleicht gedanklich so sehr verstricken würde und dann Dummheiten machte. Davor wollte er ihn bewahren und deswegen musste er ihn finden und das möglichst schnell. „Harry!" rief er einmal laut, obwohl er wusste, dass es ziemlich leichtsinnig war, in der Nacht so laut zu sein, doch gerade wusste er sich keinen anderen Ausweg. Er lauschte in die Dunkelheit, ob Harry ihm vielleicht antwortete, doch außer den Geräuschen des Waldes, drang nichts zu ihm vor.

So ging Louis einfach immer weiter, hielt die Augen offen und wagte es ab und zu nach Harry zu rufen. Doch nie bekam er eine Antwort. Als der Mond schon am Himmel stand und Louis ihn durch die Baumkronen sehen konnte, wurde ihm langsam mulmig. Immerhin war er allein und es war nun wirklich Nacht. Eine Eule schrie und er zuckte bei jedem fremden Geräusch zusammen. „Harry!" rief er immer wieder, doch es kam keine Antwort aus der Dunkelheit und langsam aber sicher machte sich Unmut in seinem Herzen breit, die so kalt war, dass er zitterte. Vielleicht sollte er besser zurück zur Eiche gehen und dort die Nacht verbringen. Morgen würde Harry sicherlich von allein zurückkommen und hatte sich vielleicht wieder beruhigt.

Und wenn nicht?

Wenn er immer weiter ritt und gar nicht plante, zurück zu kommen, weil er Angst vor der Verantwortung hatte, die ihm als König auferlag? Dann hätte er morgen einen sehr deutlichen Vorsprung und Louis würde ihn gar nicht mehr einholen und nie wieder sehen. Nein, das durfte nicht passieren, also riss er sich zusammen und stapfte weiter durch den Wald. Ab und zu rief er nach Harry und als er schon beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte, konnte er ein fernes Rufen wahrnehmen. Augenblicklich blieb er stehen, schloss die Augen und lauschte, doch es war nichts weiter zu hören. „Harry?!" rief er nochmal und beschleunigte seine Schritte, um sich in die Richtung zu begeben aus der Harry ihm antwortete. Es war schwer, im Dunkeln zu rennen und er musste wirklich acht geben, nicht gegen Bäume zu laufen, doch es gelang ihm, den harten Stämmen auszuweichen und nach und nach wurde Harrys Ruf lauter. Louis atmete bereits schwer und schnappte immer wieder nach Luft, doch er gestattete es sich nicht, anzuhalten. Zu groß war das Bedürfnis zu Harry zu kommen. Hinter einer Gruppe von Bäumen, ging es eine Böschung hinab und Louis strauchelte mehrmals, bis er unten angekommen war. Er überquerte eine schmale Straße und kämpfte sich dann nochmals durch dichtstehendes Farnkraut und kleine Büsche. „Louis!" Die Stimme war nun ganz nah und in der Ferne konnte Louis den Schein eines kleinen Feuers sehen. Dort musste Harry sein. Er hielt direkt darauf zu und plötzlich brach eine Gestalt seitlich aus den Büschen heraus. Louis erschrak, erkannte Harry jedoch sofort und sie fielen einander in die Arme. „Da bist du ja...ich hatte solche Angst..." brachte er hervor und drückte Harry an sich, der sich ebenso fest an ihn drückte und unverständliche Dinge murmelte. „Ich hab seit dem Sonnenuntergang nach dir gesucht...." - „Tut mir Leid...ich musste erst einmal weg." flüsterte Harry, löste sich von Louis, hielt sein Gesicht in den Händen fest und drückte ihm verzweifelt seine Lippen auf den Mund. Louis erwiderte den Kuss erleichtert und spürte Tränen auf Harrys Gesicht. „Du bist mir nachgelaufen...du bist so dumm...weißt du, was dir hätte passieren können?" schluchzte Harry und klang dabei so verzweifelt, dass nun auch Louis die Tränen kamen. „Himmel, ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe." erwiderter Louis und küsste Harry noch einmal stürmisch. Sie hielten einander fest, umarmten sich so heftig, als wollten sie sich nie mehr loslassen und Harry zog Louis näher ans Feuer, das er ganz in der Nähe entfacht hatte. Vielleicht bildete Louis es sich ein, doch er glaubte, Harry noch immer zittern zu spüren, während er die Arme um ihn geschlungen hatte. Sie setzten sich ans Feuer, das Harry unter einem Felsvorspung entfacht hatte und lehnten sich an den Felsen. Jetzt, da sie im Licht der Flammen saßen und einander erkennen konnten, sah Louis, dass Harrys Augen geschwollen und rot waren. Seine Wangen waren nass und er sah aus, als hätte er den ganzen Abend damit zugebracht, zu weinen. Vorsichtig strich er Harry übers Gesicht und beim Anblick der verzweifelten Ausdrucks in den grünen Augen, kamen Louis selbst ebenfalls die Tränen. Der Lockenkopf, den er als mutig und kämpferisch kennengelernt hatte, wirkte gebrochen und verängstigt, mutlos und überfordert. „Harry..." hauchte Louis, zog ihn in seine Arme und Harry ließ es zu, dass er ihn an sich drückte. Er ließ sich sogar mit dem Kopf auf Louis Schoß sinken und griff nach seiner Hand, um ihre Finger miteinander zu verweben. „Ich habe Angst...was soll ich tun, wenn ich wirklich der Thronfolger bin? Ich wäre nach dem Gesetz König....darauf bin ich nicht vorbereitet." Wieder drohte seine Stimme zu brechen und der Druck auf Louis Hand verstärkte sich, als Harry sich fester an ihn klammerte. „Ich würde dir gerne helfen, aber ich kann dir da keinen Rat geben..." gab Louis zu und streichelte Harry über die Stirn, der verstehend nickte und seufzte. „Ich habe immer gehofft, den Prinzen zu finden und ich hätte ihn voll und ganz unterstützt. Ich war bereit an seiner Seite zu kämpfen, um Jonathan zu stürzen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich noch bereit bin, das zu tun, wenn es nun mich selbst betrifft." erzählte Harry und blickte dabei verloren in die Flammen des kleinen Lagerfeuers, das er entfacht hatte. Unentwegt strich Louis über Harrys dunkles Haar und hoffte, ihm dadurch Mut und Kraft geben zu können, obwohl er natürlich nachvollziehen konnte, dass Harry gerade total durcheinander war. „Weißt du, was ich am Allerschlimmsten finde?" krächzte Harry irgendwann, nachdem sie lange geschwiegen hatten und hob den Kopf. In seinen Augen spiegelte sich so viel Schmerz, dass Louis es kaum mitansehen konnte. „Was denn?" fragte er leise und Harry antwortete: „Dass Gwydion es die ganze Zeit über wusste. Er hat es mir bewusst verschwiegen, dabei hätte ich es längst wissen können..." Während er sprach, schob er wütend den Unterkiefer vor. „Ich wäre mir meiner Verantwortung vielleicht jetzt viel besser bewusst gewesen, hätte ich gewusst, wer ich wirklich bin. Aber so; so bin ich völlig planlos und verängstigt..." Louis nickte, sagte allerdings: „Aber hätte das Wissen dir nicht auch deine unbeschwerte Kindheit geraubt. Gwydion sagte ja, du solltest es erst herausfinden, wenn du bereit dafür bist. Vielleicht bist du ja jetzt bereit dafür." - „Niemand ist bereit dafür König zu werden, wenn er nicht in dem Wissen aufgewachsen ist, einmal einer zu sein." jammerte Harry und wieder übermannte ihn die Angst und Tränen bahnten sich ihren Weg. „Oh Hazza..." Schnell drückte er Harry fest an sich, der den Tränen nochmals nachgegeben hatte und sich an Louis Unterarm klammerte, wie ein Ertrinkender.

So saßen sie lange da. Der sonst so starke Harry brach immer wieder zusammen und Louis war einfach da. Hörte zu, was der Lockenkopf sagte, wenn er einen seiner bedrückenden Gedanken laut aussprach. Die Nachricht, dass Harry Prinz und somit König war, hatte Louis selbst noch gar nicht so wirklich realisiert. Die ganze Zeit über hatte er sich nur Gedanken darüber gemacht, wie es Harry damit ging, wie er es verkraften würde und ob er mit der Verantwortung, die urplötzlich auf ihm lastete umzugehen vermochte, dass er sich noch gar nicht überlegt hatte, wie er sich eigentlich selbst fühlte. Harry, auf seinem Schoß wurde langsam ruhiger und sein Atem wurde langsamer, offenbar war er so erschöpft, dass er einschlief. Louis strich ihm durch die Locken und sah Harry an. Er war ein Prinz mit dem Anspruch auf den Thron. Wenn er ihn bekäme, wäre dieser Junge, den er so gerne hatte ein König.

Ein König.

Louis schluckte. Wenn man einmal davon absah, dass Niemand sagen konnte, ob Harry es wirklich schaffte, den Thron zu erobern, würde Louis dann bei ihm bleiben können? Oder musste Harry dann allein regieren und für Louis und die anderen Jungs gab es keinen Platz mehr in seinem Leben? Louis malte sich aus, wie es wohl wäre, wenn er Harry nur ab und zu sehen würde und dann dafür auch noch um eine Audienz bitten musste. Sicherlich würde Harry dann auf der Burg leben und vor dort aus über das Land und die Menschen herrschen, während er selbst vielleicht in einem Dorf unterkommen würde. Bestimmt würde Harry nicht alle Merry Men mit auf die Burg nehmen können. Sie waren schließlich keine Soldaten und ein König brauchte Soldaten, keine Waldläufer, die Bogenschießen konnten. Das Herz wurde ihm schwer bei diesem Gedanken und er schluckte hart, um selbst nicht auch noch den Tränen nachzugeben. Harry war auf seinem Schoß eingeschlafen und Louis deckte ihn mit seinem Umhang ein wenig zu. Dann betrachtete er Harry im Schein der Flammen mit schwerem Herzen und versuchte sich die Zukunft nicht auszumalen. Jonathan würde den Thron nicht kampflos aufgeben. Er hatte bewiesen dass er bereit war, für seine Macht zu töten und wenn Louis ehrlich zu sich selbst war, dann war er sicher, dass Jonathan gegen Harry eine Übermacht war. Er verfügte über eine Reihe gut ausgebildeter Soldaten, die gute Waffen besaßen und Kampftechniken beherrschten, von denen die Merry Men sicherlich nur träumen konnten. Was hatte Harry? Im Vergleich zu Jonathan, gar nichts: eine handvoll junger Burschen, die zwar gut Bogenschießen konnten, aber nicht mehr als drei Schwerter besaßen, die sie sich teilen mussten. Nicht einmal Rüstungen oder Brustpanzer hatten sie. Wenn Louis sich das so vor Augen führte, dann schien die Sache jetzt schon entschieden. Einen Sieg über Jonathan zu erringen war nicht möglich.

Es war also nicht einmal klar, ob es für Harry überhaupt eine Zukunft gab.

Und ohne Harry, gab es auch keine für Louis selbst, da war er sich sicher.

Der verlorene KönigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt