Die Person im Fluss

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Eine Gestalt, den Kopf halb am Ufer, das mit kleinen Steinchen bedeckt war, den Körper im niedrigen Fluss, lag bewegungslos da. Ein feines Rinnsal hellen Blutes sickerte unter der Person hervor und wurde vom Wasser davongetrieben. „Bestimmt ein Raubüberfall." mutmaßte Harry, als sie sich der Person vorsichtig näherten. „Von uns war das sicherlich Niemand. Die Merry Men erschießen ihre Opfer und ich kann keinen Pfeil sehen." Seine Augen huschten wachsam zu den Büschen, die am Flussufer an der Böschung wuchsen. „Halte das mal bitte...vielleicht sind die Täter noch hier und warten nur darauf, dass wir uns über das Opfer beugen, damit sie uns auch erledigen können." raunte Harry und bewegte dabei kaum die Lippen. Ohne den Blick von den Büschen abzuwenden, reichte er Louis die Sachen, die er getragen hatte, zog einen Pfeil aus seinem Köcher und spannte ihn in den Langbogen. Ob wirklich Wegelagerer in den Büschen lauerten? Würde Harry allein sie beide verteidigen können? Louis Körper war angespannt und er selbst in höchster Alarmbereitschaft. „Louis, sieh nach, ob der Mann noch lebt, ich gebe dir Schutz." wies Harry ihn an und spannte die Sehne des Bogens noch ein wenig weiter. Vorsichtig legte Louis Harrys Bündel im Gras ab und näherte sich dem Mann im Wasser. Jetzt, da er näher herankam, konnte er erkennen, dass der Mann die Kleidung eines einfachen Handwerkers trug. Er lag auf der Seite und das Blut kam aus einer Wunde am Hals. Nachdem er noch einige Schritte auf ihn zugemacht hatte, erkannte Louis das Gesicht des Mannes und keuchte erschrocken auf. Es war Liam. Rasch kniete er sich neben ihn und zog den blutigen Kragen des Obergewands herunter, um sich die Wunde genauer anzusehen: quer über seine Kehle verlief ein Bluterguss, genau an der Stelle, an der das Metallband der Ketzergabel um den Hals gelegt wurde. Auf dem Brustkorb und unterhalb des Kinns waren jeweils zwei lange und sehr tiefe Wunden zu sehen, die stark bluteten. Liam war blass und zitterte leicht, während ihm das Blut auch aus dem Mund lief. Die langen Zinken der Ketzergabel schienen von unten bis in seinen Mundraum vorgedrungen zu sein. Liam röchelte und atmete ganz schwach. „Liam, kannst du mich hören? Ich bin es, Louis." Als Antwort bekam er ein heiseres Keuchen zu hören. „Bist du allein von der Burg bis hierher gekommen?" Ein schwaches Nicken, wobei noch mehr Blut aus der Wunde floss und Liam wimmern ließ. Rasch schlüpfte Louis aus seinem Oberhemd und legte den Stoff vorsichtig um Liams Hals um das Blut ein wenig zu stoppen. „Harry! Ich kenne diesen Mann, er ist allein hier und es war kein Überfall! Du musst mich nicht mehr bewachen." teilte er dem Bogenschützen mit, der auf der anderen Seite des Ufers stand und noch immer mit dem Bogen auf die umliegenden Büsche zielte. Bei Louis Worten ließ Harry den Bogen sinken und sprang durch das hohe Gras in den Fluss, watete zu Louis hinüber und sah dann auf Liam hinab. „Oh großer Gott." entfuhr es ihm, als er den Verletzten sah. „Ist es noch weit zum Baum? Kannst du Hilfe holen?" bat Louis ihn mit zitternder Stimme und sah verzweifelt zu dem Bogenschützen auf, der seufzte. „ich glaube nicht, dass wir ihm noch helfen können. Er wird hier verbluten." Das wollte Louis nicht hören und dass sich Liam nun auch noch an seiner Hand festklammerte, machte die Sache nicht leichter. „Aber, Gwydion kann ihm doch sicherlich helfen, oder nicht?" startete Louis einen Versuch, Harry davon zu überzeugen, den Druiden zu holen, obwohl er sich selbst nicht einmal sicher war, ob der alte Mann eine so schwere Verletzung noch heilen konnte. Doch er konnte Liam nicht hier im Fluss an seinen Wunden sterben lassen. Das konnte er einfach nicht. Tränen der Verzweiflung stiegen ihm in die Augen, denn der Einzige, der Hilfe holen könnte, war Harry und der schien sich nicht vom Fleck rühren zu wollen. „B-bitte..." flüsterte Louis und sah zwischen Liam und Harry hin und her. Wenn Harry nicht ging, dann würde er sich eben allein auf den Weg machen und einfach hoffen, dass er den Druiden fand, bevor es zu spät war. Allerdings kannte er sich in diesem Wald nicht so gut aus, wie Harry und die Gefahr sich zu verirren war groß. Harry sah ausdruckslos auf ihn herunter, dann seufzte er: „Ach, ich kann einfach keine Tränen sehen..." seufzte er, hob den Kopf, steckte sich zwei Finger in den Mund und pfiff so laut, dass einige Vögel aus den umliegenden Bäumen erschrocken aufflatterten. Er legte den Bogen am Ufer ab und ging neben Louis in die Knie, der neben Liam im kühlen Wasser saß und weiter den Stoff auf die Wunde drückte. „Wir haben uns im Gefängnis kennengelernt." sagte Louis leise, als Harry neben ihm kniete. „Er hat mir von euch erzählt und weil er auch den Dorfbewohnern gesagt hat, dass er im Wald Männer gesehen hat, die dem alten König noch die Treue halten, hat man ihn in den Fallturm geworfen." Louis nahm den Stoff zur Seite und wusch ihn rasch im Flusswasser aus, dann legte er ihn erneut auf die Wunde. Liam stöhnte, als der nasse Stoff die offenen Stellen berührte und schloss die Augen. „Wie kommt er darauf, dass wir Getreue des Königs sind?" - „Er sagt, er hätte die Buchstaben des ehemaligen Königs in einen Baum eingeritzt gesehen." antwortete Louis und Harry sah ihn misstrauisch an. „Was ist denn?" - „Nun, ich wusste nicht, dass noch Zeichen aus Zeiten des Königs existieren. Ich dachte immer Gwydion hätte uns gesagt, wenn es noch etwas dergleichen geben würde." Etwas in Harrys Blick zeigte ihm, dass er ein wenig enttäuscht von dem Druiden war. „Jedenfalls wurde er dann Verurteilt und sollte die Ketzergabel bekommen." sagte Louis und der Lockenkopf nickte. „Ja, diese Verletzungen sehen eindeutig nach einer Ketzergabel aus, das kann man gut erkennen. Wenn er das überlebt, wird er sicherlich seine Stimme verloren haben. Sie Zinken durchbohren die Zunge und die Kehle auf so brutale Weise, dass ein Sprechen danach selten möglich ist." Harry sagte das ganz sachlich und schien keinerlei Mitleid mit Liam zu haben, der noch immer leise wimmernd im Wasser lag.

Der verlorene KönigOù les histoires vivent. Découvrez maintenant