Das zerstörte Lager

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Mit jedem Schritt, den sie auf dem weichen Waldboden taten und der sie weiter von der Burg wegführte, schien Harry gelöster zu werden. Sie sprachen kaum miteinander, stattdessen lauschte Louis auf die Geräusche des Waldes um sie her. Lag es daran, dass er sich schon ein wenig an das Leben auf der Burg gewöhnt hatte, oder waren seine Ohren schon nach wenigen Tagen überempfindlich geworden? Jedes Zwitschern eines Vogels, jedes Knacken der Zweige auf die sie traten, sogar das Rascheln von Grashalmen, die vom Luftzug ihrer Umhänge aneinander gedrückt wurden, konnte er hören. Mit jedem Atemzug füllten sich seine Lungen wieder mit frischer Waldluft, die nach Moos und modriger Erde roch. Es tat unglaublich gut.

Sie gingen eine Weile bergab, bis sie den Hügel auf dem die Burg stand, hinter sich gelassen hatten. Die Dornenhecken wurden weniger, was Louis begrüßte, denn sie hatten ihm die Beine und Hände zerkratzt. Diese Kratzer brannten nun und waren ein wenig angeschwollen, sodass man sie fühlen konnte, wenn man mit den Fingern über die Haut strich, was Louis unablässig tat, während er neben Harry herstapfte. „Wo willst du eigentlich hin?" fragte er Harry irgendwann. Dieser antwortete ihm nicht sofort, sondern schien einen Moment nachzudenken, dann sagte er: „Ich hab es mir nicht überlegt. Ich wollte sehen, wohin mich meine Füße tragen." Louis deutete auf den Wald um sie her und sagte: „Aber es dämmert schon. Lange werden wir nicht mehr herumlaufen können, bevor er so dunkel ist, dass wir nichts mehr sehen können...und du solltest vielleicht wieder in der Burg sein, wenn die Nacht anbricht." Harry verdrehte die Augen und stöhnte: „Bitte...reicht es nicht, wenn Gwydion denkt, dass ich mich nicht verteidigen kann? Und jetzt legst du mir auch schon nahe, mich wieder auf den Rückweg zu machen? Ich will zurückgehen, wann mir danach ist." Fast schon trotzig, sah er Louis an, als wartete er darauf, von ihm Widerworte zu bekommen, doch Louis sagte nichts, sondern zuckte nur mit den Schultern. „Mir ist das gleich. Wenn du magst, können wir auch gerne hier im Wald bleiben...ich wollte dich lediglich darauf aufmerksam machen, dass es dunkel wird." - „Es tut mir Leid, ich wollte dich nicht verurteilen." entschuldigte sich Harry rasch und schloss Louis in die Arme. Er legte sein Kinn auf Louis' Kopf ab und strich ihm durch die Haare, dann hauchte er ihm einen Kuss auf die Stirn, hob sein Kinn an und sah ihm in die Augen. „Danke, dass du bei mir bist."

Die Sonne glühte am Horizont noch einmal orange auf und tauchte den Wald in goldenes Licht, bevor sie hinter den Hügeln verschwand und die Grafschaft der Nacht übergab, die sie augenblicklich mit klammen Fingern nach ihnen tastete.

Sie kamen an einen Fluss entlang, der leise rauschend dahinfloss und aus dem dichter Nebel emporstieg, der über das Ufer kroch und sich in den Sträuchern und Gräsern zu verfangen schien. Instinktiv griffen sie nach der Hand des anderen, um einander im Nebel nicht zu verlieren und um ein wenig mehr Nähe zu haben.

„Wie sind gleich bei der alten Eiche." raunte Harry und tatsächlich zeichnete sich der mächtige Baum mit den schweren Ästen, die bis auf den Boden hinunterreichten, bald aus dem Nebel ab. „Lass uns heute Nacht hier bleiben. Wir können jetzt sowieso nicht mehr zurückgehen." schlug Harry vor, als sie an den dicken Stamm herangetreten waren. Mittlerweile war es so dunkel, dass sie einander nur noch schemenhaft sehen konnten. Louis war froh, dass sie neben der vertrauten Eiche standen, denn er wollte sich nicht mehr länger als nötig im Freien aufhalten. Noch immer war es neblig und der Mond, der langsam aufging, sorgte dafür, dass die Schwaden zu einer einzigen, undurchdringbaren Wand wurden.

Ein Feind oder ein wildes Tier könnte sich im Schutz des Nebels ganz nah an sie heranschleichen und das vermittelte Louis das ungute Gefühl, angreifbar zu sein, weshalb er froh war, als sie in den Schutz des Baumes getreten waren.

In der Eiche war es recht warm und ein wenig stickig. Weil es noch dunkler war, als im Freien, mussten sie sich tastend orientieren und fanden mehrere Decken, die die Merry Men zurückgelassen hatten. „Hast du Werkzeug dabei, um ein Feuer zu machen?" fragte Louis in die Dunkelheit und bekam ein Brummen zur Antwort. „Wir brauchen noch Holz zum Nachlegen. Ich gehe rasch noch was suchen." sage der König, trat nah an Louis heran, griff nach seiner Hand und legte ihm ein kleines Säckchen hinein. Nachdem er Louis noch einen Kuss auf die Lippen gehaucht hatte, verschwand er durch den Spalt im Stamm wieder hinaus ins Freie. Louis ging in die Knie und zog Zunderschwamm, Markasitknolle und das Stück Metall, sowie den Feuerstein heraus. Sofort machte er sich daran, das trockene Gras zu seinen Füßen zu entzünden und tatsächlich dauerte es nicht lang, bis ein ganz kleines Feuer in der Eiche brannte. Die Flammen züngelten gerade hoch genug, dass Louis das Innere des Baumes sehen konnte. Die Tonkrüge, die Gwydion immer benutzt hatte, um seine Kräuter zu trocknen, lagen zerborsten auf dem Boden. Louis runzelte die Stirn: waren die Merry Men so überstürzt aufgebrochen, dass dabei versehentlich etwas zu Bruch gegangen war, oder hatte Jemand hier mutwillig etwas zerstört? Waren die Scherben womöglich eine Warnung? „Harry!" rief Louis, ließ das Feuer brennen und stürzte hinaus aus dem Baum. Weil sich seine Augen an die Flammen gewöhnt hatten, war es ihm, als sei er plötzlich erblindet. Wohin er auch blickte, konnte er nur den Geist der Flammen vor seinen Augen sehen. „Harry!" rief er so laut, dass sein Ruf durch die Dunkelheit schnitt, wie ein Schwert, „Lou, was ist?" Der junge König kam aus einem Gebüsch, verhakte sich kurz in den Ästen und kam dann mit besorgtem Gesicht auf Louis zu. In den Armen trug er einige Äste und im Gesicht lag ein besorgter Ausdruck. „Harry, die Tonkrüge von Gwydion...alle sind zerborsten. Sicherlich hat Jemand das Lager zerstört, um zu verhindern, dass du zurückkommst. Was, wenn das ein Hinterhalt ist?" sprudelte es aus Louis hervor und er zog Harry dabei zum Baum, um ihm die Scherben zu zeigen. „Louis, es ist alles gut." sagte Harry, machte sich los, und wollte Louis beruhigend, den Arm um die Schultern legen, doch der war viel zu nervös. Was für eine dumme Idee es gewesen war, allein in den Wald zu gehen. „Nein, es ist nicht alles gut. Alles ist kaputt."

Der verlorene Königحيث تعيش القصص. اكتشف الآن