Am vierten Tag

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Als am vierten Tag die Sonne aufging wurde Louis unsanft geweckt, indem man das Netz ziemlich plötzlich abließ und er hart auf dem Holzboden landete. Von der Bestrafung tat ihm noch immer alles weh und diese harte Landung verstärkte seine Schmerzen nur noch. Als er sich aufrappelte und den Blick hob, sah er zwei junge Burschen vor ihm stehen. Sie blickten mit ernsten Mienen auf ihn hinunter: „Wir wurden damit beauftragt, dich zu waschen und neu einzukleiden." sagte einer der Beiden. Verständnislos nickte Louis und stellte sich wackelig auf die Beine. „Aus welchem Grund soll das geschehen?" fragte er und bekam nur ein Zucken der Schulter als Antwort. „Wir führen nur einen Befehl aus." sagte einer der Jungen. Sie nahmen Louis recht unsanft in ihre Mitte und führten ihn aus dem Thronsaal. Er war unsicher auf den Beinen, schließlich hatte er nun schon wirklich lange in der Luft gehangen. Die beiden Jungen führten ihn hinaus auf den Hof zu einem offenen Stall in dem Schweine und Rinder gehalten wurden. Es roch nach Tiermist, feuchtem Stroh, Korn und nasser Erde. Neben dem Stall gab es ein kleines, hölzernes Vordach unter dem ein Wagen mit Stroh abgestellt worden war. Hinter dem Wagen befand sich ein kleiner, steinerner Brunnen. „Hier kannst du Wasser schöpfen." sagte einer der Jungen und drückte Louis einen kleinen Eimer in die Hand. „Wir bleiben solange bei dir." sagte der andere und Louis nickte. Wieso man es ihm heute gestattete, sich zu waschen, erklärte sich ihm zwar nicht, aber natürlich war er froh darüber, sich ein wenig säubern zu können. Die Jungs wandten sich ab, sodass Louis sich wenigstens nicht beobachtet fühlte und mit langsamen Schritten auf den Brunnen zu ging.

Das Wasser war so weit unten, dass er die Oberfläche nicht sehen konnte, als er sich über den Rand beugte und hinunter in die Schwärze blickte. Der Brunnen gähnte ihn an und kalte Luft streifte sein Gesicht. Louis griff den Eimer und legte einige Steine hinein, die neben dem Brunnen lagen, um ihm mehr Gewicht zu verleihen, damit er im Brunnen nicht auf der Wasseroberfläche schwamm. Er hängte ihn an den Haken und ließ den Eimer vorsichtig in die Tiefe hinunter. Er musste viel Seil geben, bis sich das Gewicht endlich spürbar erschwerte und er vermutlich am Wasser angekommen war. Vorsichtig zog Louis den Eimer wieder hoch, der immer wieder an die Brunnenwand schlug und ein dumpfes Geräusch bis zu ihm nach Oben schallte. Weil der Eimer nicht groß gewesen war, konnte Louis ihn leicht über den Rand heben und stellte ihn vor sich ab. Er streifte sich das Hemd über den Kopf und beugte sich dann über die Wasseroberfläche, die sich wieder ein wenig beruhigt hatte und glatt geworden war. Sein Spiegelbild sah furchtbar aus. Seine Lippe war blutig und verkrustet und unter einem Auge hatte er eine Schwellung. Mehr ließ sich in dem Wasser nicht erkennen, doch eigentlich reichte es auch schon aus und er zerstörte sein Spiegelbild schnell, indem er die Hände ins Wasser tauchte und sich vorsichtig das Gesicht wusch. Es war richtig kalt und sofort bekam Louis Gänsehaut, doch er fuhr fort und wusch sich Gesicht, Hals und Oberkörper. Zitternd schlüpfte er in sein Hemd, dessen Stoff sofort an seiner nassen Haut kleben blieb. Über den Hof fegte ein kühler Wind und Louis entfuhr ein gequälter Laut. Er schlang die Arme um sich, doch es wurde nicht wirklich wärmer. „Bist du fertig?" Einer der Jungs lugte zaghaft um den Strohwagen herum zu Louis hin, der nickte. „Gut, dann können wir ja jetzt zurückgehen." sagte er und deutete auf die große Treppe, die hinauf in die Halle des Königs führte. Auf dem kurzen Rückweg fiel Louis auf, dass auffällig viele Bauern auf der Burg waren. Alle schienen nervös und aufgeregt zu sein. „Geschieht heute etwas besonderes hier?" fragte Louis die beiden Jungen und bemerkte, dass sie unsichere Blicke austauschten. „Ja, heute findet eine Hinrichtung statt. Vermutlich wollen diese Menschen sich diese ansehen." sagte einer der Jungen.

Zurück im Thronsaal fand sich Louis dem König persönlich gegenüber. Jonathan bedachte Louis mit einem leicht amüsierten Blick, sprach ihn jedoch nicht an. Ob er ihn jetzt wieder in das Netz sperren würde, fragte sich Louis in dem Moment, als schwere Schritte hinter ihm zu hören waren. „Komm mit, Junge." sagte eine tiefe Stimme, die Louis sofort als die des Henkers erkannte. „Wohin?" piepste er erschrocken. „Zum Pfarrer. Du wirst ihm gegenüber deine Beichte ablegen. Schließlich ist heute dein letzter Tag auf dieser Welt." Louis hoffte, sich verhört zu haben, aber leider sah es nicht danach aus, denn als er Jonathan ansah, der seinen Blick grimmig erwiderte und nichts sagte. Louis traf die Aussage des Henkers wie ein Schlag. War das heute seine Hinrichtung? Aber wieso? Was hatte er verbrochen? Der Henker packte ihn und zog ihn recht grob durch eine Seitentür. Louis achtete nicht auf seine Füße. Sein Kopf war zu beschäftigt, die Nachricht von eben zu verdauen. Er erinnerte sich an die Anklageschrift, die Prinz Niall und Jonathan miteinander verfasst hatten doch er hatte damals der Sache keine Beachtung geschenkt, da er nicht davon ausgegangen war, dass es ihn betraf. Beim Gedanken an den Prinzen konnte Louis nicht verhindern wütend zu werden. Er hatte Harry verraten und ihn an den König ausgeliefert. Vielleicht hatte Niall ihn deswegen verschleppen lassen, um Harry in eine Fall zu locken. Obwohl Louis sich nichts sehnlicher wünschte, als von Harry oder den Jungs befreit zu werden, so wollte er auf keinen Fall Schuld daran sein, dass Harry in die Falle tappte, die Prinz Niall und König Jonathan für ihn ausgelegt hatten. Der Henker brachte Louis in eine kleine Kapelle, die ähnlich aussah, wie die in der Burg des Prinzen, jedoch war sie deutlich karger ausgestattet. Ein Pastor, gekleidet in einer hellgrauen Kutte mit Kapuze, saß auf einer der vorderen Holzbänke und hatte den Blick auf das Kreuz erhoben, das über einem Altar an der Wand befestigt war. Er wandte den Blick erst ab, als Louis fast neben ihm stand. „Der Junge hat seine Beichte abzunehmen." sagte der Henker und der Pastor nickte. Dabei lächelte er Louis freundlich an. Es war das erste mal, seit er hier auf dieser Burg festgehalten wurde, dass ihm Jemand ein Lächeln schenkte und dazu noch ein Aufrichtiges. „Nimm Platz, mein Sohn." sagte der Pastor mit ruhiger Stimme und strich mit der flachen Hand über die Bank. Louis setzte sich, was gut war, denn seine Knie zitterten und hätten ihn sicherlich nicht mehr sonderlich lange gehalten.

Der verlorene KönigWhere stories live. Discover now