Kapitel 66

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A  D  E  L  I  N  E

Rückblick vor drei Monaten...

Mein Blick wandert suchend in dem eisigen Raum, welcher nur schwach beleuchtet wird. Ich laufe zu den verrosteten Metallregalen und leeren Fässern. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Liam die Tür öffnet und ich spüre das Pochen meines Herzens in meinen Schläfen. Meine Hände fassen hinter der staubigen Heizung nach einer roten Kiste, die ich ganz langsam  und so leise wie möglich rausziehe. Mit einem knarrenden Geräusch öffne ich sie und betrachte die vielen Werkzeuge.

Auf den ersten Anblick finde ich nichts, doch als etwas zu schimmern beginnt, entdecke ich ein rostiges Taschenmesser, wovon die Hälfte nicht mehr zu existieren scheint.

„Was tust du da?", höre ich Ethan flüstern, während ich die Kiste so leise wie möglich wieder zurücklege. Ich antworte ihm nicht. Stattdessen gehe ich auf ihn zu und gehe in die Hocke. Das Seil um seine Handgelenke ist grob und schneidend, und ich spüre, wie er zuckt, als ich mit dem Taschenmesser rangehe. Ein seltsamer Ausdruck legt sich auf sein Gesicht, als er mich bittet, damit aufzuhören. "Adeline, nein, wenn sie dich erwischen, werden sie dich umbringen.", sagt er mit einer Mischung aus Wut und Verwirrung.

Für einige Sekunden stoppe ich, schaue ihn in seine glanzlosen Augen, bevor ich seine Worte ignoriere und entschlossen weiter mache.

Ich werde Ethan nicht zurücklassen. Nein, ich bin nicht wie er. Das würde ich und könnte ich nie.

Während das Seil nachgibt, flüchten meine Gedanken zu Aiden. Die zornigen Blicke, die schmerzenden Sätze und die unausgesprochenen Fragen. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinem Körper aus. Alles scheint für einen Moment stillzustehen, nur das leise Rascheln des Seils durchbricht die Stille.

„Adeline, du musst-", erneut will Ethan zu reden beginnen, doch dieses Mal unterbreche ich ihn. „Sei endlich leise.", fauche ich und funkele ihn böse an. Mein Bruder ist verwirrt, aber ich bin gerade dabei beschäftigt, die nervigen Tränen wegzublinzeln und mir gleichzeitig nicht meine Finger abzuschneiden. „Ich mache das nicht für dich okay? Ich tue es für mich.", sage ich und spüre die Flüssigkeit abermals meine Wangen entlang spazieren.
Für eine Weile guckt mich Ethan weiterhin ahnungslos an, bis er langsam zu nicken beginnt.

Ich würde es nicht verkraften, zu wissen, dass mein Bruder tot ist, weil ich mich auf die Seite seines Mörders gestellt habe.

Als die Fesseln endlich nachgeben, löse ich den Blick von ihm und stehe auf. Ein kalter Luftzug streicht über mein feuchtes Gesicht, als ich zur Tür gehe. Der Raum hinter mir bleibt ein Gefängnis aus Stille und Erinnerungen. Womöglich die letzte Erinnerung an meinem Bruder.

Meine Hand legt sich auf die Türklinke. Bevor ich diese aber runterdrücke, schaue ich zu ihn zurück. Um meine Brust wird der Druck immer stärker und ich ahne, dass mir die Luft jede Sekunde ausgehen könnte. Dabei helfen mir die Trauer und die Schwäche in seinem Ausdruck keineswegs.

„Danke", haucht er mir entgegen. Aber meine Worte sind wie gefroren und ich verlasse den Raum und schließe die Tür hinter mir.

Wie als hätte ich ein Buch geschlossen. Ein Buch, das ich schon längst hätte schließen sollen, es allerdings nicht tun konnte. Doch diesmal bin ich mir sicher, dass es vorbei ist.

Ethan wollte schon längst gehen. Er wollte gehen und abschließen, also tue ich ihn den gefallen. Ich lasse ihn gehen und schließe selber ab.

„Ist alles in Ordnung?"

Ich schaue von dem Boden hinauf und blicke zu Liam, welcher mich verwundert empfängt. Seine Augen fangen die Spuren meiner Tränen auf, dabei kommt er einen Schritt näher. Hastig nicke ich und wische mir die Flüssigkeit vom Gesicht weg. „Alles bestens, ich würde nur gerne gehen.", sage ich und schaue ihn nahezu flehend an.

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