Kapitel 70 - Epilog

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A D E L I N E

Einige Wochen später...

Ich streiche mir einige meiner Strähnen, die mir die Sicht versperren, während ich auf das leere Blatt vor mir starre. Der Stift zwischen meinen Fingern ist kurz davor selbst wegzuspringen, da er schon seit über zwanzig Minuten rumgewirbelt wird und nicht zum nutzen kommt.

Erneut kommt es mir albern vor und ich will ohne weiter nachzudenken, den Stuhl zurückschieben und aufstehen. Doch in der gleichen Sekunde fliegt Micky auf meine Schulter und macht es sich dort bequem, dabei fängt er an zu meckern.

„Ach komm schon.", schaue ich ihn nahezu flehend an und hoffe, dass er mich doch noch aufstehen lässt. Nun fängt er an, an meinem T-Shirt zu knabbern. "Meine Gedanken sind durcheinander. Ich werde kein ordentliches Bild hinkriegen.", versuche ich ihn zu erklären. Und wo ich darauf hoffe, dass der Vogel wieder den Abflug macht, kräuselt sich meine Stirn aufgrund meiner eigenen Worte.

Was rede ich denn für einen Unsinn?

Seit dem Tag, an dem ich nach hause gekehrt bin, habe ich nicht einmal den Stift angerührt. Allein sein Anblick hat mich verängstigt. Aus dem Grund, weil ich die Erinnerungen nicht wahr machen möchte.

Ich möchte sie vergessen. Sie vergraben und nie wieder vor meinen Augen haben. Ich möchte seine Augen, sein Lächeln und all die Sicherheit nicht mehr sehen, wenn ich an diese Erinnerungen denke.

Denn es verstört mich. Es verstört mich, weil keine andere an meine Situation solche Gefühle verspüren würde. Höchstwahrscheinlich würde sie sich immer noch auf dem Sofa ausheulen und schlimmsten Fall nun einen Trauma haben.

Aber ich...

Ich spüre nichts als Leere. Eine Leere, die sich mit jedem Tag zu einem unendlichen Abgrund ausweitet. Es ist eine Leere, die mich umhüllt, die mich erstickt und mich zugleich lebendig fühlen lässt.

Als ich ging, ließ ich ein Stück von mir bei ihm zurück. Möglicherweise, weil ich nicht vollständig gehen wollte. Vielleicht hat er es mir aber herausgerissen, ohne dass ich es hätte verhindern können. Ich weiß es nicht und ich muss es auch nicht wissen. Denn so oder so, finde ich es gut, dass ein Teil von mir bei ihm ist.

Denn ich glaube, dass das der Grund ist, weshalb ich mich noch lebhaft fühle.

Ich brauche mich nicht selbst zu belügen. Meine Zeichnung würde düster, einsam und traurig aussehen. Doch das wäre nur der Oberflächliche Eindruck für die Betrachter.

Sie würden nicht sehen, was sich hinter dem weinenden Mädchen verbirgt, die sich ihre Haut blutig kratzt. Sie würden nicht den Mann erkennen, der sie mit seiner bloßen Stimme aus ihren dunkelsten Alpträumen befreit hat.

Niemand von ihnen würde die Liebe und die Zuneigung in seinen Augen erkennen, obwohl er zuvor die Welt um sich herum zum Einsturz gebracht hat.

Und genauso werden sie niemals sehen, wie die Sonne aufgeht, nachdem sie sich die ganze Nacht lang versteckt hatte.

Doch die Sonne scheint. Sie strahlt so hell, dass die Dunkelheit der Nacht vergessen scheint.

Ihre warmen Strahlen fühlen sich an wie ein Versprechen. Ein Blick zu ihr hinauf und man denkt, dass die Nacht einen nie wieder besuchen wird.

Doch plötzlich, von einer Stunde zur nächsten, ist es dunkel. Die strahlen sind verschwunden, die Wärme entzogen und man wird vom heulenden Wind umgeben.

Ein versprechen? Das war kein Versprechen. Das war die Hoffnung.

Ich hatte Hoffnung. Hoffnung, dass seine Augen mich nicht verlassen würden. Dass sie mich nicht meinen Ängsten überlassen würden. Aber nun ist es die Realität. Und ich akzeptiere es, weil ich jetzt verstehe, dass es sein muss.

Die Sonne kann nicht für immer scheinen. Ihre Wärme wird auf Dauer alles zerstören.

Und nun ist dies das Ende. Das Ende, an dem ich erkenne, dass diese Geschichte mit der Angst begann, dort gefangen zu sein und mit der Angst endete, gehen zu müssen.

Ein Gefühl, das von der Liebe gespalten wird.

Ich blicke auf das Blatt und bin komischerweise so zufrieden, wie lange nicht mehr.

Das Bild ist weiß.

Ich lege den Stift auf den Tisch, schiebe den Stuhl nach hinten, um aufzustehen.

„Es ist Zeit, auch dieses Kapitel zu beenden, Adeline."

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