Kapitel 69

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A  D  E L I N E

„Gut", sagt Aiden und ich höre eine gewisse Erleichterung in seinem Unterton. Ich versuche irgendetwas aus seinen Augen abzulesen, irgendetwas zu finden, dass mich endlich aufklärt. Aber ich sehe nichts außer zerbrochene Scherben, grüne und braune Scherben. Glänzende Scherben, die mit Tränen umhüllt sind.

Irgendwann bricht er den Augenkontakt ab und ich spüre, wie sich die Wärme entzieht und sich gleich darauf die Kälte spürbar macht.

Ich betrachte ihn von der Seite. Ich betrachte den Mann, der mich jetzt nach Hause schicken will, obwohl er mich all die Monate gefangen gehalten hat. Der Mann, der mich gehasst hat und dem ich gegenüber nichts anderes gespürt habe als Angst.

Ich betrachte ihn und weiß, dass er nichts lieber wollen würde, als meine ganze Familie nach und nach umzubringen. Und jetzt will ich meine Augen nie wieder von ihm nehmen.

Doch ich weiß, dass ich es muss.

Einige der Tränen kullern immer noch und ich mache mir nicht die Mühe, sie wegzuwischen.

Die innere Stimme in mir wird immer lauter und schreit mir zu, dass ich endlich nachgeben und aufstehen soll. Und möglicherweise hat sie ja recht.

Was mache ich hier?

Ich schaue runter und höre dem Chaos in meinem Kopf für nur einige Sekunden zu. Das reicht mir schon, um mir dann doch die Flüssigkeit auf meinem Gesicht zu trocknen und aufzustehen.

Aiden schaut mich weiterhin nicht an und gerade wo ich meine Beine dazu zwingen will umzudrehen, schleicht sich eine Frage in mein Kopf, die mich die vergangen drei Monate gequält hat.

„Was ist mit Ethan?", frage ich und will die Antwort gleichzeitig gar nicht hören. Ich will nicht hören, dass er tot ist. Nicht noch einmal.

Die Furcht frisst sich durch mein Knochenmark hindurch und verpasst mir obendrauf noch Übelkeit.

Aiden antwortet nicht und je länger er schweigt, desto nervöser werde ich. Ich schlucke, dabei frage ich mich, ob meine Worte überhaupt bei ihn angekommen sind.

Doch als seine Lippen sich einige Male trennen, sie jedoch keinen Ton rausbringen, bleibt augenblicklich alles um mich herum stehen.

Nein, nein, nein!

Hat er es getan?

Er kann es nicht getan haben. Er darf es nicht getan haben.

Ich warte auf eine Antwort, eine Reaktion, die mein rasendes Herz nur um einige Stufen beruhigt, bevor es mir gleich aus der Brust springt, aber von ihm kommt nichts. Rein gar nichts.

Ich merke erst, dass ich den Atem angehalten habe, als ein lauter Schluchzer durch den Raum hallt.

Prompt schaut er zu mir. Allerdings kann ich seinen Blick nicht deuteten, denn so ganz plötzlich fühle ich mich schwach. Als würde sich die ganze Kraft aus meinem Körper entziehen.

Und ehe ich blinzeln kann, lande ich auf dem Boden.

Ich höre wie er meinen Namen ruft, bevor er aufsteht und auf mich zukommt. Jedoch nehme ich es kaum wahr, denn das einzige, woran ich gerade denke, ist mein Bruder.

Ich habe ihn verloren. Schon wieder. Nur dieses Mal ist es meine Schuld. Ich hätte es anders machen können. Ich hätte Aiden anbetteln können und ihn sogar mein Leben anbieten sollen, doch stattdessen habe ich ihn meinen Bruder auf dem Silbertablett serviert. Wahrscheinlich auch den rest meiner Familie.

Der Schmerz um meine Brust wird immer stärker, genauso wie mein Geheule. Und tatsächlich ist es mir relativ egal, wie laut ich bin.

„Hör auf zu weinen.", sagt der Mann, dessen Stimme der Lieblingsklang meiner Ohren war. Aber gerade ist sie das letzte, das ich hören möchte. Seine Hand greift nach meinem Arm, jedoch verweilt sie nicht lange dort, denn ich schlage sie auf Anhieb weg. Verschwommen sehe ich hoch und erneut möchte er mir näher kommen. „Fass mich nicht an!", versuche ich ihn anzufauchen, aber meine Stimme ist nichts, als ein Hauchen, welche unter dem Weinen untergeht.

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