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Als ich aus dem Flugzeug aussteige, schlägt mir die Hitze ins Gesicht. Es ist das komplette Gegenteil vom kalten, regnerischen englischen Wetter. Aber ich mag die Hitze eh nicht. Alle sind so gut drauf wenn die Sonne scheint und es warm ist. Nur ich nicht. Nie. Seit mein Vater vor zwei Jahren gestorben ist, bin ich unglücklich. Ich habe mich abgeschottet und bin seitdem depressiv. Meine Mutter schleppt mich von einem Therapeuten zum anderen, aber keiner kann mir helfen. Wie auch? Mir ist nicht zu helfen. Ich meine, was würde es bringen, darüber zu reden, was ich fühle? Was ich denke? Wie soll ich dadurch glücklich werden?

Letztendlich hat Mama entschieden, dass das einzige, was hilft ein Umzug ist. Sie erfüllt sich damit auch gleichzeitig einen Traum: Schon immer wollte sie in Australien leben, aber Papa und ich wollten nie. Und jetzt hat sie es einfach entschieden. Warum sollte man seine depressive Tochter auch fragen, ob es okay für sie ist, ans andere Ende der Welt zu ziehen? Ich habe ein bisschen das Gefühl, dass es sie gar nicht mehr interessiert, wie es mir geht.

Schon jetzt vermisse ich Brighton und den Blick aufs Meer. Eine der beiden Sachen, die mich beruhigt und einigermaßen glücklich gemacht hat. Aber jetzt ist nicht einmal das mehr da. Das einzige was mir bleibt, ist die Musik - immerhin.

''Annie kommst du?'' fragt mich meine Mutter. ''Ja.'' antworte ich knapp wie immer und folge ihr zum Parkplatz. Dort soll ein Auto für uns stehen, dass Mama schon im Voraus gekauft hat. Nach kurzer Suche finden wir den grauen BMW und packen unsere Koffer in den Kofferraum. Dann lasse ich mich auf der Rückbank nieder und stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren. Abschotten - das was ich die letzten zwei Jahre gemacht hatte - würde ich hier weiterführen und perfektionieren können. Was gibt es hier schon groß zu machen? An den Strand legen werde ich mich garantiert nicht und auch shoppen ist meiner Meinung nach überbewertet. Ich fühle mich wohl in schwarzen ripped Jeans und Band-Shirts und so. Mehr Klamotten brauche ich nicht.

Wir fahren in die Einfahrt eines großen weißen Hauses und meine Mutter steigt aus. Auch ich öffne die Autotür und quäle mich vom Sitz. Dann sehe ich mir mein neues Zuhause an: groß, weiß und bestimmt unnötig teuer. Wofür möchte Mama so ein Haus haben? Wir sind zu zweit und ich bewege mich von meinem Zimmer ins Bad, in die Küche, aus dem Haus und wieder zurück in mein Zimmer...Naja sie wird wohl wissen, was sie mit 10 Zimmern anfängt. Aber putzen helfen werde ich ihr garantiert nicht!

Ich nehme mir meine Taschen aus dem Kofferraum und folge meiner Mutter ins Haus. ''Du kannst dir ein Zimmer von den Zimmern oben aussuchen, Schatz.'' sagt sie zu mir. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und schleppe meine Sachen die Treppen hoch. Dort lasse ich sie erst einmal stehen und gehe durch jeden Raum. Am Ende entscheide ich mich für ein Zimmer mit Balkon und Empore, denn vom Balkon aus kann ich am Horizont das Meer sehen. Es ist zwar nicht so schön, wie in Brighton, aber immerhin etwas. Plötzlich klopft es an der Tür und die Möbelpacker bringen mein Bett ins Zimmer. Unfreundlich sage ich den beiden Männern, wo es hin soll und warte ungeduldig, bis sie fertig sind. Als nächstes bringen sie meinen Schrank, die Kommode, meinen Schreibtisch und den Rest meiner Möbel. Auch jetzt bin ich nicht wirklich nett zu den beiden Möbelpackern und höre, als sie sich von meiner Mutter verabschieden, wie sie sich für mein Verhalten entschuldigt. Sie schämt sich für mich, aber ich kann es ihr auch nicht verübeln. Ich bin immer schlecht gelaunt, zickig zu jedem, der mich anspricht und auch sonst nicht das, was man sich unter einer perfekten oder wenigstens guten Tochter vorstellt. Aber mir macht das nichts aus. Mir geht es halt nicht gut und ich hasse meine Mutter dafür, dass sie versucht mich wieder glücklich zu machen. Es wird eh nicht klappen. Aber natürlich habe ich gleich morgen den ersten Termin bei einem neuen Therapeuten. Als ob die hier anders wären, als in England...Naja ist ja Mamas Geld. Kann ich nicht ändern.

Ich stecke mein Handy an die Anlage und sofort dröhnt Paramore in den Raum. Dann mache ich mich daran, meine Taschen und die wenigen Kartons auszupacken, in denen meine Kleidung, CDs und so weiter drin sind. Nach nicht einmal zwei Stunden habe ich alles ein- und aufgeräumt. Ich mache meine Musik aus und gehe hinunter, um meine Mutter nach Abendessen zu fragen. ''Kannst du dir vielleicht etwas selber machen? Ich bin noch nicht fertig mit ausräumen.'' ''Ist das dein Ernst Mum?'' zicke ich sie an. ''Annie Schatz, ich weiß, dass du unglücklich bist, aber das ist kein Grund, so mit mir zu reden!'' Oh, zieht sie jetzt neue Regeln auf? In England hat sie sich nie über meinen Ton beschwert. Ich verdrehe nur meine Augen. ''Gib Sydney wenigstens eine Chance.'' fleht sie mich an. Das wird wohle echt ein kompletter Neuanfang hier...zumindest für sie. Für mich wird alles weitergehen wie vorher: schlafen, essen, Musik hören, Schule, Therapie und in meiner Depression stecken. Ohne ein Wort drehe ich mich um und laufe in mein Zimmer, um mein Geld zu holen. Dann verlasse ich das Haus. Ich höre noch, wie meine Mutter nach mir ruft und fragt wo ich hingehe und wann ich wiederkomme. Aber das ignoriere ich einfach. Sie wird schon sehen, wann ich wiederkomme, und was ich mache kann sie sich eigentlich denken: Essen kaufen. Auf dem Weg zu einem McDonalds, denn ich auf der Hinfahrt gesehen habe, komme ich an einem kleinen Musikladen vorbei, der aber schon geschlossen hat. Kein Wunder, es ist schon nach neun Uhr abends. Ich nehme mir vor, morgen mal vorbeizuschauen.

Bei McDonalds hole ich mir nur einen Burger und eine Cola. Meiner Mutter nehme ich eine Portion Pommes und einen Kaffee mit. Ich bin zwar gemein zu meiner Mutter, aber so schlimm bin ich dann auch nicht.

Langsam mache ich mich auf den Rückweg und komme nach fünfzehn Minuten wieder zu Hause an. ''Mama, ich habe Essen geholt. Ich stelle es dir hier hin.'' rufe ich und gehe hoch in mein Zimmer. Dort reiße ich die Balkontür auf und setze mich auf den Balkon. Da dort noch nichts steht, setze ich mich einfach auf den Boden und gucke aufs Meer beziehungsweise dahin wo das Meer ist, denn es ist ja schon dunkel. Leider stören die ganzen Gebäude von Sydneys Innenstadt. Schon spüre ich einen Stich in meinem Herzen: Ich vermisse den ungehinderten Blick auf die Wellen, die in Brighton direkt vor meinem Fenster waren. Jetzt trennen mich um die zwei Kilometer und die Bankgebäude. Auch der kalte Wind, den ich so liebe, fehlt hier. Es ist hier einfach so unglaublich heiß, sogar der Wind, der durch meine Haare fährt.

Nachdem ich meinen Burger aufgegessen und meine Cola ausgetrunken habe, gehe ich in mein Bad, um mich zu duschen. Das ist ein Vorteil des neuen großen Hauses: Ich habe mein eigenes Bad!

Lange lasse ich das kalte Wasser auf meine Haut prasseln und versuche mein Heimweh ein wenig zu ignorieren.

Als ich zurück in mein Zimmer gehe und die Treppen zur Empore hoch, entdecke ich neben meinem Bett eine kleine Klappe. Neugierig öffne ich sie und was ich sehe überrascht mich: Es ist ein Zugang zu einem kleinen Flachdach. Da meine Mutter nach mir ruft, schließe ich die Tür schnell wieder und nehme mir vor, später mal genauer nachzusehen.
Ich laufe zu meiner Mutter ins Wohnzimmer, nur um zu hören, dass ich morgen früh aufstehen muss, da ich ja einen Termin beim Therapeuten habe. Als könnte ich das vergessen. ''Ich weiß Mama!'' motze ich sie an und füge dann freundlicher hinzu: ''Gute Nacht.'' ''Gute Nacht, Süße. Schlaf schön.'' antwortet meine Mutter, freundlich wie immer. Manchmal wundere ich mich, wie sie so nett zu mir sein kann, wie sie immer noch Hoffnung hat, dass ich wieder glücklich werde. Ich meine, ich bin arschig zu ihr wie niemand sonst. Aber von Anfang an hat sie meine Unfreundlichkeit einfach ignoriert.  Irgendwie tut sie mir leid. Ich bin eine einzige Enttäuschung. Wer möchte so etwas als Tochter haben? Ich kann mich aber auch nicht einfach ändern. Anfangs habe ich das versucht, aber es hat nicht funktioniert und dann habe ich es aufgegeben. Niedergeschlagen gehe ich zurück in mein Zimmer und lege mich in mein Bett. Gedanken über die Schule, über den neuen Therapeuten und über zu Hause rasen durch meinen Kopf. Tränen treten in meine Augen. Also stehe ich wieder auf und öffne erneut die kleine Klappe. Ich krieche hindurch und betrete das kleine Flachdach zwischen den Hauswänden. Langsam drehe ich mich herum: an jeder Seite eine Wand, nur an der zum Meer nicht. Innerlich bedanke ich mich beim Architekten dafür. Scheinbar hatte er auch eine Vorliebe für das Wasser. Ich atme tief durch, lasse den warmen Wind durch meine Haare wehen, die Tränen laufen und gucke aufs Meer.

depressed. l.h. (Teil 1)Where stories live. Discover now