Kapitel 1

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Ich betrete die Küche, doch Mums und Dads Blick haften am kleinen Fernseher, der gerade die Nachrichten abspielt. Sofort wird meine volle Aufmerksamkeit auf die adrett gekleidete Nachrichtensprecherin gezogen.

Aiden Miller wurde gestern aus der Jugendstrafanstalt entlassen, nachdem er eine dreijährige Haftstrafe wie auch dreijährige Verwahrung in einer Wohngruppe für straffällige Jugendliche wegen Körperverletzung mit Todesfolge an seinem Mitschüler Christopher Bennett abgesessen hat. Er wird zurück in seine Heimatstadt Haysville kehren und versuchen sein Leben in geordnete Bahnen zu bringen.

Ich geselle mich ebenfalls an den Küchentisch und lausche weiter gespannt den Nachrichten, während ich mir eine Schale mit Müsli fülle. Obwohl es gesetzlich gesehen einen riesen Unterschied gibt zwischen einem Mord und einer Körperverletzung mit Todesfolge, ist das Leid für alle Betroffenen das Gleiche. Ein Leben wurde ausgelöscht. Einfach beendet. Das Leben eines Jungen, welcher noch sein gesamtes Leben vor sich hatte. Christopher hatte ein Sportstipendium. Ihm standen alle Türen offen und er hatte mit Sicherheit eine grandiose Zukunft vor sich mit einer erfolgreichen Footballkarriere.

»Ich wusste gar nicht, dass er entlassen wurde«, gebe ich von mir und schiebe einen Löffel Cornflakes in den Mund. Auf Dads Stirn bildet sich eine tiefe Falte, die mir signalisiert, dass ein ernstes Thema auf den Tisch kommt. Mit einem Finger schiebt er seine Brille den Nasenrücken hinauf und räuspert sich anschließend.

»Wir möchten gerne mit dir darüber sprechen.«

Er und Mum wechseln Blickkontakt, ehe Mum nickt und nach meiner Hand greift. Sie umschließt meine Hand zärtlich mit ihren und fährt mit einem Daumen in kreisenden Bewegungen über meine Handinnenfläche.

»Ihr wart früher sehr gut befreundet.« Dad unterbricht für einen Augenblick um danach mit autoritärem Ton weiterzusprechen: »Aber wir möchten, dass du den Kontakt zu ihm meidest.«

Während Mum mich verständnisvoll und fürsorglich ansieht, ist Dads Blick einfach nur streng.

»Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass Aiden mir was antun könnte. Das ist total absurd.« Ich verdrehe theatralisch die Augen und erhalte sofort einen mahnenden Blick von Dad.

»Sarah das war keine Bitte, sondern eine Aufforderung. Solange du deine Füße unter unserem Tisch hast, hast du nach unseren Regeln zu spielen.«

Ich bewege meine Lippen zwar zu einem künstlichen Lächeln würde aber am Liebsten einen lauten Seufzer von mir geben. Ich hasse es, wenn sie mich bevormunden und wie ein kleines Kind behandeln. An diesem Vormittag frühstücke ich schneller als sonst, um so prompt wie möglich das Haus zu verlassen. Raus aus dieser bedrückenden Atmosphäre. Raus aus diesem Zimmer voller Kontrolle, Angst und Verboten. Weg von meinen besorgten Eltern.

Mit dem Betreten der Schule verschwindet endlich das beklemmende Gefühl, für welches meine Eltern verantwortlich sind. Ich steuere direkt mein Spint an und sehe Melody im Augenwinkel neben mir auftauchen. Früher waren wir Freundinnen, doch seit dem Vorfall mit Aiden vor sechs Jahren gehöre ich nicht unbedingt zu den beliebten Schülern. Melody hingegen ist eine Cheerleaderin und heiß begehrt bei den Jungs. Sie ist cool, hübsch und ihre Familie hat das nötige Kleingeld um ihr alle Wünsche zu verwirklichen. Im Grunde genommen für jeden Außenstehenden perfekt, wenn sie nur nicht so eingebildet wäre.

Als die Lautstärke im Korridor abnimmt, schaue ich mich suchend um, bis meine Augen schlussendlich an der Eingangstüre kleben bleiben. Aiden steht da. Unzählige Augenpaare starren ihn an und sofort beginnen alle zu tuscheln. Dieses Szenario wirkt so surreal auf mich, dass ich mich an meiner eigenen Spucke verschlucke und mich einige Male räuspern muss bis ich wieder normal atmen kann.

»Der Psychopath ist wieder da. Das kann ja was werden«, kichert Melody und öffnet ihr Schließfach, um einige Unterlagen darin zu verstauen.

»Vielleicht bist du ja sein nächstes Opfer.« Ich fahre mit dem ausgestreckten Zeigefinger an meinem Hals entlang und hoffe, dass die volle Ladung Ironie sie mit ganzer Wucht erwischt hat.

Ich betrachte ihn und muss feststellen, dass er nicht mehr der zwölfjährige Junge ist, der er einst war. Er hat sich verändert. Seine braunen Locken sind länger geworden und hängen ihm so ins Gesicht, dass sie zum Teil die Augen verdecken. Zudem sind die Wangen markanter und männlicher. Beim Anblick seiner tätowierten Arme kann ich nicht anders als meinen Kopf automatisch zu Schütteln. Wie klischeehaft das doch ist. Sein Oberkörper ist durchtrainiert und sein enganliegendes T-Shirt unterstreicht seine Brustmuskulatur.

Ich schultere meinen Rucksack und bahne mir einen Weg zwischen den ganzen Schülern hindurch, bis ich vor Aiden stehe.

»Hey«, krächze ich, denn zu mehr bin ich nicht in der Lage. Ich schlucke schwer und spüre wie sich jede Faser meiner Muskeln anspannt. Als ob man mich verzaubert hätte und ich mich langsam in eine Steinstatue verwandeln würde.

Er hebt seinen Blick und sieht mich direkt an. Seine grünen Augen fixieren meine und ich warte nervös auf eine Reaktion seinerseits. Sag etwas. Mach was. Starr mich nicht einfach nur an. Mein Atem geht schnell und das Herz ist mir sprichwörtlich in die Hose gerutscht. Er hält meinem Blick stand, doch keinerlei Reaktion erscheint in seinem Gesicht. Seine Mimik ausdruckslos, gleichgültig und kalt.

Ohne meine Begrüßung zu erwidern, wendet er seine Augen wieder ab und läuft einfach an mir vorbei. Ich zucke zusammen, als sein Arm mich streift und ein Schauer mir über den Rücken läuft. Er lässt mich stehen, als ob ich eine Fremde wäre und obwohl ich ihm nach sehe, schenkt er mir weiterhin keine Beachtung.

Angewidert machen ihm alle Platz und versuchen soviel Abstand wie nur möglich zwischen sich und ihn zu bringen. Als ob er die Seuche höchst persönlich wäre und jeden mit dieser ansteckenden Krankheit infizieren würde.

»Freak«, höre ich eine Jungenstimme Aiden hinterher rufen, doch diese Worte prallen unbeeindruckt an ihm ab.

Aiden - gefährliche Liebeحيث تعيش القصص. اكتشف الآن