Kapitel 3

1.1K 144 117
                                    

»Bin Zuhause«, gebe ich kund und husche sofort die Treppe nach oben, um mich anschließend auf mein Bett zu werfen. Was ist mit Aiden nur los? Ich krieche an die Bettkante, taste mit meiner Hand den Boden ab und krame eine kleine, braune Schatulle heraus.

Ich mache es mir im Schneidersitz bequem und öffne vorsichtig die mit Staub überzogene Schachtel. Mein ganzes Hab und Gut, das Wertvollste was ich besitze, bewahre ich darin auf. Ich leere den Inhalt aus und sofort fällt mir ein Foto von Aiden und mir ins Auge. Es wurde an unserem ersten Schultag geschossen, ich mit lila Kleidchen und pinker Einhornschultüte, Aiden mit Hemd und Fliege sowie einer Rennautoschultüte. Seinen dünnen Arm hat er um mich gelegt und wir grinsen beide wie Honigkuchenpferde in die Kamera. Ich betrachte ein weiteres Foto, welches an meinem zehnten Geburtstag entstanden ist. Damals hatte ich noch viele Freunde und war nicht nur, wie mittlerweile, die beste Freundin des Mörders. Naja im Grunde genommen bin ich nicht mal mehr das, denn Aiden will Nichts mit mir zu tun haben.

Ein kleiner, zusammengefalteter Zettel, welcher bereits gelbe Verfärbungen an den Kanten aufweist, ist ebenso aus der Schatulle gefallen. Ich öffne das Papier und muss schwer schlucken, als ich realisiere um was es sich handelt.

Körperverletzung mit Todesfolge nach Auseinandersetzung zwischen zwei Schülern

Im US-Bundesstaat Kansas muss sich ein 12-jähriger Junge wegen einer Körperverletzung mit Todesfolge vor Gericht verantworten, nachdem er seinen Mitschüler, während eines heftigen Streites von einer Klippe in den Tod gestoßen haben soll. Zeugen zufolge war der Streit bereits aus größerer Entfernung zu hören.

Wie die Justizbehörden mitteilten, ereignete sich dieser Vorfall im Juli, gegen späten Nachmittag am Waldrand von Haysville. Der 12-jährige gestand die Tat. Er berichtete seinen Mitschüler mit beiden Händen in die Brust gestoßen zu haben, sodass dieser die Klippe hinunter gestürzt ist.

Ein lauter Seufzer entgleitet meinen Lippen, nachdem ich meinen Oberkörper gegen die weiche Matratze fallen lasse und die Zimmerdecke anstarre. Wieso ist Aiden so abweisend zu mir? Ich habe ihm fast wöchentlich Briefe geschrieben, während er in Haft war, doch keinen Einzigen hat er je beantwortet.

»Sarah steh auf.« Ich blinzle einzige Male, reibe mir die Schläfe und sehe Mum vor mir stehen, die vorsichtig an meiner Schulter rüttelt.

»Wieviel Uhr haben wir denn?«, frage ich monoton, da meine Gesichtsmuskulatur auf Sparflamme arbeitet. Ich gähne noch einmal kräftig und richte mich, wenn auch nur zögerlich, auf.

»Es ist schon neunzehn Uhr. Ich wollte dich eigentlich gar nicht wecken, aber Mrs. Brown wartet schon auf ihre Einkäufe.«

Obwohl Mrs. Brown nicht offiziell zur Familie gehört, wird sie wie ein Familienmitglied behandelt. Wir erledigen ihre Einkäufe, helfen ihr im Haushalt und versuchen sie, wo es nur geht im Alltag zu entlasten.

»Gib mir fünf Minuten Mum.«

Ich strecke meine Arme in die Luft, um meinen verspannten Körper in die Gänge zu bringen, binde mir anschließend die Haare zu einem losen Dutt und schlüpfe in meine Sneaker.

Im Flur steht bereits der Korb für Mrs. Brown, welchen ich mir schnappe und gleich daraufhin das Haus verlasse. Die Tür fällt lauter als beabsichtigt ins Schloss und ich zucke zusammen. Der Abend ist noch herrlich warm und keine einzige Wolke befindet sich am Himmel. Fünfzehn Minuten brauche ich für den Weg zu Mrs. Brown und werde freundlich empfangen, als ich endlich vor ihrer Tür auftauche. Natürlich lässt sie mich nicht sofort gehen, sondern bittet mich herein und verwöhnt mich mit Selbstgebackenem. Ich leiste Mrs. Brown gern Gesellschaft, da sie weder Kinder noch sonstige Angehörige hat.

Als ich den Heimweg wieder antrete, dämmert es draußen bereits. Es ist 21 Uhr, die Straßen sind mittlerweile auch menschenleer und ich laufe zügig die Gassen entlang, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.

Mit einem Mal überkommt mich ein seltsames Gefühl. Es kommt mir so vor als ob ich beobachtet werde und ich bleibe abrupt stehen um mich umzusehen. Ruckartig drehe ich mich um 360 Grad und hoffe, mir das nur eingebildet zu haben. Obwohl ich Niemanden erkennen kann, empfinde ich diese Situation als bedrohlich und fühle mich verfolgt.

Ich erhöhe mein Schritttempo, spüre einen intensiven Blick im Rücken, spüre Etwas sich mir nähern. Ich habe das Gefühl, dass Jemand direkt hinter mir steht und als das Gefühl so stark ist, dass ich vermute gleich Hände auf meinen Schultern zu spüren, renne ich los. Besorgt sehe ich nach Hinten, ohne auch nur für einen kurzen Moment stehen zu bleiben. Mein Körper zittert, der Herzschlag beschleunigt sich ins Unermessliche und sofort spüre ich mein Herz mit einer unglaublichen Geschwindigkeit gegen den Brustkorb schlagen. Ich laufe und laufe, bis mich schmerzhafte Kontraktionen zwischen den Rippen überkommen. Ich bleibe für einen Moment stehen, nur eine kurze Pause gönne ich mir und lehne mich gegen eine Hauswand. Ich sacke ein wenig in die Knie, atme tief ein und aus, um gegen den Schmerz anzukämpfen. Meine Atmung ist flach, weshalb ich schwer Luft bekomme und sofort fühlt sich mein Mund extrem trocken an.

Ich schleiche einen Schritt nach links um dem beleuchteten Radius der Straßenlaterne zu entfliehen. Ich begebe mich weiter in die Dunkelheit hinein und meine Augen flackern nur so hin und her um jedes auch so bedrohliche Indiz wahrzunehmen. Mit einem Fuß ziehe ich so leise wie nur möglich einen etwa zehn Zentimeter großen Stein zu mir, um ihn im Notfall als Waffe einzusetzen. Damit könnte ich meinen Verfolger definitiv außer Gefecht setzen.

Ich drücke meinen Körper stärker gegen die Wand, ich versuche unsichtbar zu wirken, eins mit den grauen, abgenutzten Backsteinen zu werden. Völlig allein stehe ich in einer dunklen Gasse und nehme erst jetzt wahr, dass weit und breit keine Menschenseele ist. Niemand, der mich im Fall der Fälle retten könnte. Ich fühle mich hilflos und der Kloß in meinem Hals wächst mit jeder Sekunde, weswegen ich das Gefühl habe zu ersticken.

Auch wenn ich Niemanden sehe, könnte ich schwören nicht allein zu sein. Ich spüre ganz intensiv Augen auf meiner Haut, die jeden meiner Schritte beobachten und nur auf den richtigen Augenblick warten, um mich anzugreifen. Da ich am Höhepunkt der Angst angekommen bin, mein Körper auch noch zu kollabieren droht, nehme ich die Beine in die Hände und laufe erneut los. Ich renne als ob es keinen Morgen geben würde und spüre wie ich mit jedem Schritt Seitenstechen bekomme. Meine Beine werden mit jedem Meter schwerer und fühlen sich immer mehr wie Blei an, doch ich kämpfe gegen die Erschöpfung an. Ich beisse die Zähne zusammen und appelliere an meine restlichen Kraftreserven mich nicht im Stich zu lassen. Nicht jetzt. Nicht heute und nicht hier im Nirgendwo.

Aiden - gefährliche LiebeWhere stories live. Discover now