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„Bist du wach?", vernahm ich Harrys Stimme in der Dunkelheit.

Wir waren wieder im Hotel. Nachdem wir eine geraume Weile einfach nur auf der Bank gehockt hatten, hatte ich ein Taxi bestellt, das uns wieder zurück zum Hotel gefahren hatte.

Den völlig aufgelösten Harry hatte ich dann bettfertig gemacht und ehe sein Kopf das Kopfkissen berührt hatte, war er bereits eingeschlafen. Ich hatte mich dann, ohne mich umzuziehen, neben ihn gelegt. Zwar spürte ich wie die Müdigkeit an meinen Augenlidern zerrte, aber sobald ich die Augen schloss, fing ich nur umso mehr an nachzudenken.

Wie konnte es sein, dass noch nie jemanden aufgefallen war, wie Harry von seinem eigenen Vater so behandelt worden ist? Man hätte doch etwas merken müssen. Als ob er nicht Trauer und Schmerz versprüht hätte. Niemand kann auf die Dauer so etwas für sich behalten, ohne das man unweigerlich unbewusste Signale ausstrahlt, die schier nach Rettung schrien.

Allerdings erinnerte ich mich an Maras Worte, die Harry als eine freundliche und höfliche, wenn auch zurückhaltende, Person beschrieben hatten.

Das sein Vater so übervorsichtig mit ihm war, hatten alle damit abgetan, dass Harrys Famiilie ja bereits einen Sohn verloren hätte. Wahrscheinlich sprach man dabei von Hale und ich hatte nur versehentlich verloren sofort mit verstorben gleichgesezt.

„Ja, ich bin wach.", antwortete ich ihm; meine Stimme klang völlig emotionslos.

„Wie lange geht das schon mit deinem Vater, Harry?", fragte ich und nach kurzem Zögern erwiderte Harry: „Seit ich ungefähr neun Jahre alt war..."

Acht Jahre schon? Acht Jahre?!

„Hey, du zitterst ja.", stellte Harry fest und erst ab da an, merkte ich, dass ich das auch tat. Hatte ich schon die ganze Zeit gezittert? Ich wusste nicht wann es angefangen hatte. Schon im Park? Im Taxi? Als Harry eingeschlafen ist? Oder erst als Harry gerade wieder aufgewacht ist und angefangen hat zu sprechen?

„Es tut mir Leid", flüsterte Harry, kam näher zu mir, griff mit seinem rechten Arm um meine Hüfte und drückte sich ganz fest an mich, während er versuchte mich mit regelmäßigen und sanften Streicheleinheiten zu beruhigen.

Aber irgendwie konnte ich meinen Körper überhaupt nicht mehr kontrollieren und ich fing nur noch mehr an zu zittern. Selbst einzelne Schluchzer entwichen meinen Mund. Warum war ich auf einmal nur so schwach?

„Oh, Gott! Nein! Das wollte ich nicht! Ich hasse den Alkohol! Ich wollte dir das nie erzählen! Genau deswegen wollte ich das dir – einfach niemandem – jemals erzählen! Einfach, weil ich genau weiß wie sehr das niemand verstehen kann! Es ist so kompliziert! Es tut mir so Leid!"

Ich schüttelte nur den Kopf und sah von Harry weg, als ich bemerkte, dass seine Augen den Augenkontakt mit meinen suchten.

Stattdessen fuhr ich mit meiner linken Hand von seiner Schulter ab an seinen Arm herunter, bis ich seine Finger berührte, die ich dann mit meiner umschloss.

„Es tut mir Leid", hauchte Harry und wieder schüttelte ich den Kopf.

„Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen"

„Doch! Wegen mir geht es dir doch jetzt so schlecht!"

Wieder schüttelte ich den Kopf und das einzige, was ich schaffte noch zu erwidern war: „Nein, glaub' das bloß nicht!"

Innerlich verfluchte ich mich dafür, dass ich genauso blind wie alle anderen an unserer Schule war und nie gesehen hatte wie gebrochen dieser Junge doch ist, während er tagein tagaus hinter verschlossenen Türen Qualen durchleben musste.

Rette Mich || LarryWhere stories live. Discover now