Kapitel 2

887 40 2
                                    

(Bild: Damion)


Ich musste hier weg. Nach einigen Minuten lautlosem Flehen verlor ich schon die Geduld, also versuchte ich mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ich kugelte mich herum, sodass ich vor meinen festgebundenen Händen hockte und nun überlegte. Mir fiel nichts Besseres ein, als erfolglos mit den Zähnen an den Seilen zu ziehen. Verdammt, da war eine Intimhaarentfernung ja angenehmer! Es tat bestialisch weh, also wenn ich als Omi noch meine Zähne haben wollte, sollte ich jetzt damit aufhören.

Ich gab es also in dem Moment auf, als ich die schabende Geräusche im Türschloss vernahm. Mein Blick hetzte zur Tür. In meiner Konzentration auf die Flucht hatte ich weniger daran gedacht, dass mir erneut ein Werwolf begegnen konnte. Dafür war viel zu viel passiert in der letzten Zeit. Wie viel Zeit war überhaupt vergangen, seit ich ohnmächtig gewesen war? Leichte Panik erfasste mich. 'Du bist hier ganz allein, Leandra! Was ist, wenn das einer der Werwölfe ist? Tun die einem etwas an?' Ich versuchte meine Gedanken in eine beruhigende Richtung zu lenken - allerdings weniger erfolglos! Also probierte ich zur Ablenkung, mich so gut es ging auf die Ankunft eines Werwolfes vorzubereiten. Dazu rutschte ich mit dem Po zur Seite und drehte mich wieder mit dem Blick Richtung Tür. Meine gefesselten Arme waren nun zu meiner rechten und wurden in einem unbequemen Winkel gehalten. In den letzten paar Sekunden, bevor sich die Tür öffnete, warf ich einen hektischen Blick um mich herum. Es sah aus wie ein langweiliges Hotelzimmer. Kommode, Nachttisch, das Bett auf dem ich befand und eine weitere Tür, durch die man wahrscheinlich in ein Badezimmer gelangte. Zur Verteidigung war nichts da. Ich versuchte mich zu trösten, dass ich es eh nicht geschafft hätte, mich zu bewaffnen.

Die Tür ging auf und ein mir unbekannter Mann betrat das Zimmer. Er hatte hellbraune, kurze Haare und war großgewachsen. 'Verdammt gute Gene haben die alle', dachte ich mit einem Hauch der Eifersucht. Seine Augen blitzten in klarem Blau, die mich durchbohrten und nicht sonderlich beruhigend waren. Ich hielt meinen Atem an. Ich wusste vorher schon, wie ich in Gefahrensituationen reagiere, aber jetzt war es offensichtlich. Ich gehörte zu den Leuten, die sich tot stellen - und diese starben in Filmen meist als Erstes. Wieder gab ich mir eine mentale Backpfeife. 'Wie wäre es mit etwas Optimismus?' Ich ignorierte die Stimme, die mir mitteilte, dass es alles hoffnungslos war. Ich musterte den Werwolf weiterhin, der mich ebenfalls musterte, bis er schließlich mit einem Grinsen das Wort ergriff. Er war wohl der Meinung, dass er die Spannung lang genug aufgebaut hatte, der Mistkerl! Seine Stimme war merkwürdigerweise sanft und angenehm, sodass mein Gehirn seine bedrohlichen Worten erstmal verarbeiten musste: "Der Alpha will Dich sprechen. Ich bring' dich zu ihm."

Als ich keine Anstalten machte, irgendeine Reaktion zu zeigen, ging er um die Ecke des Bettes herum und wollte mich losbinden. Ich wich zurück und zog meine Fesseln mit auf die andere Seite. Er schaute erst verdutzt, grinste dann lässig und steckte seine Hände vollkommen unbeeindruckt in die Hosentaschen. „Du willst spielen? Ich liebe Spiele mit hübschen Frauen."

Ich schaute ihn entsetzt an und zog nur meine Beine an, um mich instinktiv möglichst klein zu machen. „Wie eine Kämpferin siehst du ja gar nicht aus. Umso besser, dann wird es ja noch spaßiger!", sagte er. Er langte schneller als ich gucken konnte übers Bett und zog mich an meinem rechten Fuß zu sich. „Neeeeein", schrie ich erst panisch. 'Leandra, konzentrier dich. Nutze doch einfach deine Gabe. Dann kann er dir nichts mehr tun.' Meine Augenbrauen zogen sich zusammen vor Konzentration. Es war erstmal schwer, sich bei dem Schmerz im rechten Fußgelenk auf meine Fähigkeit zu konzentrieren. Aber mir gelang es mit einem tiefen und erschöpften Seufzer meine Verbindung zu seinem Gehirn herzustellen und meine Fähigkeit auf ihn anzuwenden. Auf seinem Gesicht zeigte sich Entsetzen und Schmerz, nach einigen weiteren Sekunden lockerte sich sein Griff um mein geschundenes Fußgelenk.. Nach einer weiteren Sekunde wurde ich voller Wucht aus meiner Konzentration gerissen. In meinem Kopf hallte wieder diese „doppelte" Stimme, wie der Alpha sie vorhin genannt hatte. Schreiend versuchte ich meine Ohren abzudecken. Meine Sinne - mein Gehör insbesondere war gerade vergleichbar mit einem Vergrößerungsglas, sodass diese Stimme sich so laut anhörte wie die Musik auf einem Metal Konzert, nachdem man 1 Woche lang nur sehr leise Klaviermusik gehört hatte. Es war wirklich sehr schmerzhaft.

Wolf's Heart - Finding Destiny (Majesty Award 2019, Wattys Longlist 2018)Where stories live. Discover now