Er hätte hier alt werden können

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Ich trat raus auf den großen gepflasterten Innenhof des Reitzentrum Thompsons und sah die vielen Autos mit ihren Anhängern verteilt herum stehen. Die Rampen waren runter geklappt und nach und nach wurden die Pferde ausgeladen. Alle waren sie eingeflochten, trugen dünne Abschwitzdecken und wirkten sehr erschöpft. Ein weiterer Turniertag war vorüber gegangen. Ein weiterer, an welchem ich nicht mitgefahren war. Aus den Boxenfenstern, welche an dem U-förmigen Gebäude auf den Innenhof zeigten, waren viele dösende Pferdeköpfe zusehen, die ab und zu ein kleines Wiehern von sich gaben, wenn der Boxennachbar aus einem der Anhänger auftauchte. Seufzend blieb ich stehen und sah als außenstehende Person dem vertrauten Trubel zu. Mit einem flauen Gefühl im Magen sah ich über den Innenhof, weiter in Richtung der offenen Seite, welche zu den Wiesen und den Reitplätzen führte. Die Bäume trugen ein gelb-rotes Laubkleid und es war wieder die Jahreszeit des langsamen, leisen, schönen und traurigen Sterbens. Der Sommer neigte sich dem Ende, der Winter stand vor der Tür. Die letzten Turniere der Saison liefen. Bald wäre wieder Erntezeit, das große Hoffest, an welchen die jüngeren verkleidet mit ihren Pferden zum Spaß über Hindernisse sprangen. In der Reithalle wäre eine große Tafel aufgebaut, jeder würde etwas zu Essen mitbringen und alle würden über die vergangene Saison reden. Ich würde daneben stehen und an meine letzte Saison denken. Ich hatte keine vergangene Saison, ich hatte die letzten Monate mit meinem Pferd. Mit meinem geliebten Pferd, welches mich innerhalb von wenigen Jahren zu der glücklichsten Reiterin dieses Planeten gemacht hatte. Ja, vor drei Wochen starb Nightwish. Vor drei Wochen verlor dieser große Hof das, was ihn einst auszeichnete – das beste aktive Springpferd der Welt. Was nach seinem Tod passierte? Viel und auch wieder nichts. Es passierte viel in den Medien, an diesem Stall, der Reitwelt und in meiner Familie. Es passierte nichts bei mir. Ja, es hatte mich zerrissen, innerlich zerstört und komplett aufgewühlt, doch es änderte nichts in meinem Umgang gegenüber anderen Pferden. Ich tat weiter das, was ich die letzten Monate seines Lebens getan hatte. Ich ritt Einsteller von anderen Pferdebesitzern, ich pflegte Pferde, mistete aus und fütterte. Ich tat all die Dinge, die ich früher getan hatte, doch ich lief jeden Tag an der leeren Box von Nightwish vorbei und spürte die Leere, die nun an im Nordtrakt für mich herrschte.

„Hi Luna, wir sind zurück!", rief Peter über den halben Innenhof und lächelte mir zu. Ich nickte ihm zu und zwang mich zu einem Lächeln. Lynn stieg aus dem Geländewagen in weißer Reithose, weißem Shirt und Sneakers und sah sehr müde aus. Aus dem Anhänger nahm man Poltern und Wiehern war. Peter und ein Stalljunge ließen die Rampe runter Lynn führte den großen Wallach aus dem Anhänger. Das kastanienbraune Pferd mit der schwarzen Mähne und der weißen Blesse hieß King Star. Das neue Glück der Familie. Gedacht ist er für Lynn und mich, doch momentan reitet nur sie ihn. Ich hatte kein Interesse an einem Pferd mit dem Potential, den gleichen Weg einzuschlagen, wie Nightwish es getan hatte. Lautstark wieherte der junge Wallach, tänzelte auf der Stelle umher und riss den Kopf in die Luft. Er sah toll aus, keine Frage. Eins A Körperbau, tolle Gänge, super Absprünge. Es gab nur vereinzelte Knackpunkte, wie sein Tempo und dem gerollten Rücken beim Sprung. Ab und zu glich er dann doch einem Hubschrauber, welcher über ein Hindernis hopste.

„Hast du schon gefüttert?", fragte Mom mich auf einmal.

„Nein, das wollte ich jetzt machen", erwiderte ich und machte mich auf den Weg in den Haupttrakt. Um den Südtrakt kümmerte sich heute Peter, ich hatte mich freiwillig für und Haupt- und Nordtrakt eingeteilt, weil ich die Pferde in diesen Trakts liebte.

Mit der Schubkarre und einer Futterschaufel fuhr ich die Pellets durch den Haupttrakt. Ich ging von Box zu Box und teilte jedem Tier das zu, was ihm zustand. Vor der Box von Harmony blieb ich stehen und öffnete die Boxentür. Ich kontrollierte die zierlichen Beine der großen Stute und den dicken Bauch. Harmony war trächtig. Ungewollt. Sie sah müde aus. Einer der Hengste von einem Reiter ist bei seinem täglichen Freigang abgehauen, über die Zäune und gesprungen und wir haben ihn auf der Weide von Harmony und Rocky Rubin wieder gefunden. Leider haben wir einen Monat später festgestellt, dass dieser Besuch nicht ganz ohne Folgen war. Nun war Harmony im Alter von 18 Jahren trächtig und würde in der nächsten Zeit ihr erstes und definitiv einziges Folgen zur Welt bringen. Es schien aber alles gut bei ihr zu sein und ich warf ihr eine Decke über, damit sie eine warme Muskulatur im Rückenbereich hatte.

Mein Weg führte mich weiter durch den ganzen Haupttrakt, bis ich an einer der letzten Boxen ankam. Ein kleines Wiehern entwich dem großen Schimmel, als er mich erblickte. Rocky Rubin stand vor mir. Sein Fell seidig, die Mähne gerade geschnitten und das Maul weich. Er war in Topform und man konnte kaum glauben, dass er aber nicht mehr im Turnierbetrieb war. Eine Knochenabsplitterung im Huf, sogenannte Chips, hatten zu dieser Entscheidung vor einiger Zeit geführt und nun ritt ich den Schimmel häufiger als meine Schwester, auch wenn er noch immer ihr gehörte. Ich übernahm die Arbeit im Hintergrund, damit sie den Rücken frei hatte.

Im Nordtrakt traf ich dann wieder auf die altbekannten Chaoten. Schmiddi und Peter Pan. Hier stand nun auch in einer der Boxen King Star, das wohlmögliche Ausnahmetalent. Als ich dem Fuchs in Nightwishs ehemaliger Box sein Futter gab, spürte ich den Schmerz in der Brust. Hier stand früher mein Pferd. Meine große Liebe, verkörpert durch ein Pferd. Es tat noch immer so schrecklich weh. Der unruhige Fuchs tänzelte auf der Stelle umher und ich ignorierte sein Verhalten. Das Eingewöhnen dauerte bei ihm ungewohnt lang. Ich hatte zum Glück nichts zu tun mit diesem Pferd. Ein wenig besorgt um das Tier, gab ich ihm sein Futter und ging zu der Box der Schecken. Ein freudiges herzliches Wiehern entwich ihm und anders als andere Pferde, ging er nicht zielstrebig zu seinem Futtertrog, sondern kam zur Boxentür und steckte seinen Kopf durch die geöffneten Gitterstäbe. Lächelnd streichelte ich ihm über die Stirn und er schloss genießend die Augen. Peter Pan war die Sonne des Stalls. Er brachte Freude und Abenteuer ins Leben. Neben ihm stand noch immer Schmiddi, der kleine Schimmel mit dem großen Herzen.

Als letztes fütterte ich King Star. Ihn sollte ich auch bald reiten. Zumindest war das Peters Plan. In seinem Kopf hatte er sich bereits alles ausgemalt, wie es einmal werden sollte. Lynn und ich sollten ihn gemeinsam trainieren. Lynns Streben nach Turnieren und meine Erfahrungen dank Nightwish sollten King Star zu einem Wunderpferd machen. Noch hielt ich nicht viel davon, zu sehr schmerzte es noch, wenn ich an Jonny dachte.

Ich hatte zu Ende gefüttert, brachte die Schubkarre zurück in die Futterkammer und schnappte mir einen Besen. Die Stalljungen hatten mir hinterher gearbeitet und in allen Boxen Raufutter verteilt. Jetzt musste ich noch die Spuren auf der Stallgasse beseitigen, damit die Pferde nicht auf dem Heu-Beton-Fußboden ausrutschen würden. Aus dem alten verstaubten Radio kam leise Musik und ich fegte das restliche Heu auf einen Haufen. Ich hörte, wie ein Auto auf den, inzwischen dämmrigen Hof fuhr und hielt. Eine Autotür wurde zugeschlagen. Wenig später kam jemand in die Stallgasse des Haupttraktes.

„Du arbeitest ja noch immer", nahm ich die dunkle und raue Stimme von Jason wahr. Er kam in seiner alten zerrissenen Jeans und dem Shirt mit Ölflecken auf mich zu, nahm mich in den Arm und wuschelte durch meine Haare.

„Ja, einer muss es ja machen", erwiderte ich seufzend

„Wie viel musst du noch machen?", erkundigte sich Jason. Ich stützte mich auf meinem Besen ab und sah den gesamten Haupttrakt runter.

„Bis zu Rocky Rubin", gab ich nur von mir. Jason sagte nichts, nahm sich einen Besen und begann ebenfalls über den Betonboden zu fegen. Gemeinsam befreiten wir die Stallgasse von dem Heu und brachten es auf den Misthaufen.

Wir standen neben dem Misthaufen hinter der Reithalle und leerten die Schubkarre aus. Mein Blick fiel auf die Wiesen, wie sie in der kühlen Herbstluft dort lagen. Leichter Nebel bildete sich wenige Zentimeter über dem Gras und der Himmel erstrahlte rosa-rot. Auf der kleinen vorderen Wiese standen die älteren Pferde, welche nicht mehr im Turnierbetrieb waren. Sie genossen ihre verdiente Rente und standen den ganzen Sommer draußen. Ich schüttelte unterbewusst den Kopf und spürte wieder diese Leere in mir.

„Was ist los Luna?", wollte Jason wissen und stellte sich neben mich, um das zu sehen, was ich sah.

„Er hätte einer von ihnen werden können. Er hätte hier alt werden können. Ich hätte es mir so für ihn gewünscht", meinte ich nur leise.

„Ja, das hätte er, aber das Schicksal hatte auch ein Wort mitzureden.", entgegnete er leicht seufzend.

Close To Heaven.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt