Du suchst ihn

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Es war Mitte November und ich war gerade dabei Lucky Strike, Rocky Rubin und King Star von der Weide zu holen und sie nacheinander um zudecken und anschließend in ihre Boxen zu bringen. Da alle drei Pferde unter dem Einfluss von der Erziehung meiner Schwester und mir groß geworden sind, konnte ich ihnen einfach den Strick über den Hals hängen, ohne dass sie davon liefen. Aus der Sattelkammer holte ich die Stalldecken und sah aus dem Augenwinkel Mom und Peter miteinander diskutieren. Ich folgte deren Diskussion, währenddessen ich ein Pferd nach dem anderen fertig machte.

„Peter, du verstehst das nicht. Ja, Harmony war meine große Liebe. Ich habe dem Pferd so viel zu verdanken und ich weiß selbst, dass ein neues Pferd mir gut tun würde, aber ich will nicht wieder so ein Pferd wie Harmony. Sie war zickig, stur und penibel, es hat sie ausgezeichnet, aber verstehe mich bitte doch, wenn ich nicht eins zu eins wieder ein Pferd wie sie will. Denk doch mal an Lunas Worte. Sie hat es damals mehr als deutlich gesagt; ‚es wird keinen weiteren Nightwish geben' Sie hat Recht. Man darf ein ehemaliges Pferd nicht einfach so ersetzen, denn kein Pferd kann diese entstandene Lücke ersetzen. Verstehe das doch bitte", argumentierte Mom.

„Was für ein Pferd willst du? Was willst du überhaupt erreichen mit dem Pferd?", wollte Peter wissen

„Ich will die nächsten drei Jahre keine Turniere reiten. Ich will mich auf die Zucht konzentrieren und einfach nur ein Pferd, welches ich Pflegen, lieben und schätzen kann.", erwiderte sie

„So etwas wie Rocky Rubin in jung?", hakte Peter skeptisch nach und verschränkte die Arme vor der Brust. Prüfend sah er zu mir herüber, da der Schimmel bei mir stand. Ich ließ Rocky in seine Box verschwinden

„Ja, so in etwa", stimmte Mom ihm distanziert zu

„Susann, du hast so unfassbar viel Talent. Du bist eine hervorragende Reiterin. Beherrschst sowohl die hohe Dressur, als auch den erstklassigen Springsport. Du solltest dein Talent nicht einfach so vernachlässigen", kam es kopfschüttelnd von Peter.

„Muss ich denn immer mich auf Turnieren beweisen, kann ich nicht einfach für mich reiten, ganz ohne den Turnierdruck? Weißt du wie sehr es an meinen Nerven gerissen hat, jedes Wochenende perfekt vorbereitet auf ein Turnier zu fahren, auch wenn das Pferd mal nicht in Topform war? Wir sind jetzt hier in Kanada und ich will einen Neustart. Zwanzig Jahre mache ich das nun schon mit, noch länger, irgendwann ist das Fass mal voll", entgegnete Mom. Innerlich stimmte ich ihr zu. Ich konnte sie mehr als gut verstehen. Mir haben schon fünf Jahre mit Nightwish gereicht. Leise seufzend nahm ich King Stars Strick und führte ihn weg.

„Was soll dein neues Pferd mitbringen? Wonach suchst du?", fragte Peter nun konkret und sah seine Verlobte abwartend an. Mom holte hörbar Luft und schien nachzudenken. Ich schloss die Boxentür von King Star und ging zu Lucky Strike zurück, um seine Deckengurte zu schließen.

„Ich weiß nicht. Einerseits ein Pferd mit Potential, um in der Freizeit weiterhin dem Springreiten und vielleicht auch der Dressur treu zu bleiben, aber in erster Linie ein treuer Weggefährte, der Spaß an Ausritten hat. Nicht zu eitel, nicht zu faul. Einfach ein gutes Pferd. Es sollte dennoch ein Pferd sein, mit dem ich das hier", sie zeigte um sich und meinte damit den Reitstall, „repräsentiere. Ich rede nicht von einem Pferd wie Schmiddi und Peter Pan, nein, eher ein Pferd wie Nevados oder Rocky Rubin. Vielleicht kehre ich irgendwann mal wieder zum Leistungssport zurück, aber für die nächsten zwei bis drei Jahre, die uns alle auf die Probe stellen werden, brauche ich einen treuen Gefährten. Ich will einfach nach einem stressigen Tag hier aufm Hof mein Pferd satteln können und raus in den Wald. Ja, ich möchte weg vom Parcours und Dressurviereck, welches akkurat und perfekt geharkt im Fokus des disziplinierten Trainings steht. Ja, so in etwa", gab Mom mit einer gewissen Leidenschaft in der Stimme von sich. Ich hielt inne, dachte über ihre Worte nach und sah leicht zu Lucky Strike hoch. Liebevoll strich ich über seinen Hals, griff nach dem Strick und ging auf Mom und Peter zu, begleitet von dem gleichmäßigen Geräusch der Hufe, welche bei jedem Schritt von Lucky auf der gepflasterten Stallgasse hallten. Vor Mom und Peter blieb ich stehen, sah beide nacheinander an und lächelte dann meiner Mutter zu. Ich streckte meine Hand mit Lucky Strikes Strick in ihre Richtung und nickte ihr aufmunternd zu.

„Du suchst ihn", meinte ich leise. Mom sah mir fragend ins Gesicht, dann auf meine Hand mit dem Strick und dann den Rappen an. Peter runzelte fragwürdig die Stirn.

„Deine Beschreibung deines Traumpferdes passt eins zu eins auf ihn. Glaub mir. Du kannst mit ihm beides – Erfolg haben oder die Freizeit genießen. Er ist genau das, was du suchst, aber er brauch genau wie du die nächsten Monate, vielleicht auch Jahre, eine Pause von dem disziplinierten und stumpfen Turniersport. Er ist quasi dein Spiegelbild und so sehr ich versucht habe ihm das zu geben, was er braucht, ich habe es nicht geschafft. Du hast keine Anforderungen an ihn und er keine an dich. Es ist gekürt und wann immer du willst, kannst du ihn in der Zucht einsetzen", erklärte ich meine Entscheidung. Mom und Peter hörten mir aufmerksam zu und Mom nickte minimal. Sie griff nach dem Strick von Lucky Strike und klopfte seinen Hals.

„Vielleicht hast du Recht. Vielleicht passt das ja mit uns", erwiderte Mom und schnalzte leicht, damit sich Lucky Strike in Bewegung setzte. Gemeinsam mit dem Rappen ging sie weg von Peter und mir, die Stallgasse entlang zu einem der Putzplätze. Lynn und Daniel kamen uns entgegen. Beide trugen sie die Sättel ihrer Pferde, welche sie heute gefettet hatten

„Was ist das denn jetzt?", wollte Lynn verwundert wissen und sah Mom und dem Pferd fragend hinter her.

„Manchmal liegt die Lösung für Probleme näher, als man denkt", erwiderte Peter schulterzuckend und sah dann zu mir runter. Nachdenklich biss er sich auf die Unterlippe.

„Wahrscheinlich hast du die einzig richtige Entscheidung getroffen. Ich wollte schon Coco aus Florida zurückholen", meinte er zu mir, klopfte auf meine Schulte rund verschwand in die entgegengesetzte Richtung, in welche Mom gerade verschwunden war. Daniel seufzte leicht und sah mich prüfend an

„Jetzt steht sie da wieder, ohne Pferd.", kam es nur von ihm. Lynn legte die Stirn in Falten und stützte ihren Sattel auf der großen Holzkiste neben der Sattelkammer ab.

„Du kannst Rocky Rubin komplett übernehmen, wenn du möchtest oder Daniel lässt dich mit Nevados reiten. Er hat ja eh noch die zwei Einsteller, um welche er sich auch kümmert", schlug meine Schwester vor.

„Nur weil ich kein Pferd mehr habe, welches ich hauptsächlich trainiere, wird die Arbeit hier nicht weniger", entgegnete ich leicht auflachend.

„Du hast ihn echt gerne gehabt, das wusste hier jeder", widersprach Daniel.

„Ja, aber es hat nicht gepasst. Das hat man immer wieder gesehen.", erwiderte ich                                 

„Ein Pferd ohne Reiter ist immer noch ein Pferd, ein Reiter ohne Pferd ist nur noch ein Mensch", kam auf einmal von Lynn und ich folgte ihrem Blick, welcher auf dem kleinen Metallschild lag, welches über der Holzkiste hing. Es sollte uns alle immer daran erinnern, unsere Pferde zu schätzen und bewusst machen, wie wichtig sie für unser Leben hier waren.

Close To Heaven.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt