12.

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Kurz vor meinem 16. Geburtstag sind Milky und ich in einem Freibad schwimmen gegangen. Es war schon eine Zeit lang mein Wunsch gewesen, vom drei Meter Turm zu springen. Und eines Tages nahm mich mein Bruder an die Hand und zerrte mich zum nächsten Bad. Dann kam eins zum anderen. Ein so unschuldiger Tagesausflug endete mit einem 10 Meter Turm Sprung, den ich wohl nie vergessen werde.

Dieses Gefühl, die Leiter hoch zu klettern und immer und immer höher zu steigen. Plötzlich weit oben zu sein, über den Baumkronen. Ein unbeschreibliches Gefühl. Aber ein Beweis für mich selbst. Ich bin nicht feige und konnte einen kurzen Moment stärker sein als meine Angst.
Und das blieb mir im Gedächtnis.

Ich bin stärker als meine Ängste.

~~~

Schon von Weitem sehe ich Sebastian und als er mich erblickt, winkt er mir zu. Warum auch immer. Ich lächel und winke ihm auch zu. Dazu beschleunige ich meine Schritte, um schneller bei ihm zu sein. Mir ist sehr gut bewusst, dass ich fünf Minuten zu spät bin und mir ist das sehr unangenehm. Sonst bin ich wirklich pünktlich.

"Na Liv. Wie geht's? Gut geschlafen?", lacht mich Sebastian an und umarmt mich zur Begrüßung.

Als erstes erstarre ich aus Schock wegen plötzlicher Nähe, doch dann umarme auch ich ihn. Ich neige eher dazu körperliche Nähe zu Fremden abzulehnen, aber bei Sebastian fühle ich mich ganz gut aufgehoben.

"Bei mir ist alles Prima und bei dir so?", frage ich höflich zurück.

Ich bin gar kein Fan von Smalltalk jeglicher Art. Die tiefgründigen Gespräche sind mir doch lieber, als über das Wetter zu reden.

"Auch, auch"

Und dann ist peinliche Stille. Irgendwie ist es jetzt anders, als unsere unbeschwerten Treffen im Harmonie oder im Supermarkt. Mir fällt plötzlich nichts ein, das ich sagen könnte.

Ist das hier überhaupt ein Date, oder eine einfache Verabredung unter Freunden? Darüber hatten wir gestern nicht gesprochen, nur wann wir uns wo treffen. Aber nicht, wie formell unser Treffen doch ist. Meine neu gewonnene Kraft durch Leo verblasst immer mehr und die Angst kehrt zurück.

Sebastian fährt sich durch seine Haare und versucht nicht allzu verschämt auszusehen, was nicht allzu gut klappt. Meine Augen wandern an seinem Körper herunter.

Ich lache und wie ich lache. Verdammt ist das witzig, obwohl es genauso verrückt ist.

Auch er trägt ein rotes Oberteil und eine dunkle kurze Hose, was ihm sehr gut steht.

Sebastian stimmt in mein Lachen ein, ohne zu wissen, worum es eigentlich geht.

"Haben wir gestern abgesprochen, was wir anziehen, oder ist es einfach nur Zufall? Oder haben wir den gleichen guten Klamotten Geschmack?", japse ich.

Ich sehe in Sebastians Gesicht die Erleuchtung und sein Lachen wird zu einem gerissenen verschmitzten Lächeln.

"Ach, ich habe deine Gedanken Kilometer entfernt aus gehört und dachte mir, es wäre doch mega, das gleiche zu tragen wie du. Dazu wollte ich so scharf aussehen wie du"

Verdammt, wegen seinem indirekten Kompliment glühen meine Wangen feuerrot an. Ich bin nicht gewöhnt Komplimente zu bekommen oder sonst was in diese Richtung. Das alles hier ist Neuland für mich und wenn ich nicht bald wieder gelassen werde, werde ich in Kürze komplett durchdrehen. Vollkommenen Schwachsinn reden oder etwas machen, sodass ich Sebastian vergraule.

Unschlüssig wippe ich von einem Bein aufs andere. Soll ich jetzt danke sagen, oder sowas in der Art? Gott, wann wurde das Leben so kompliziert?

"Ich lebe schon seit drei Jahren in Köln und hatte nie die Gelegenheit den Dom zu besichtigen", teile ich offen mit und schneller als ich gucken kann befinde ich mich in der Sehenswürdigkeit, obwohl es mich auch überhaupt nicht interessiert. Aber somit ist das Peinliche hin und her beendet.

Sebastian und ich brauchen eine Weile, bis unsere Gespräche Pfad aufnehmen und wir beide nicht mehr so nervös sind. Immer weiter vertiefen sich unsere Gespräche, sodass ich schon sehr viel über ihn weiß.

Er ist zum Beispiel Einzelkind, hat sich aber immer einen kleinen Bruder gewünscht, mit dem er hätte spielen können. Gebürtig kommt er aus Bielefeld und kam nach Köln um zu studieren. Sein Medizinstudium brach er ab und begann eine gewöhnliche Ausbildung, als Bürokaufmann, was seine Eltern überhaupt nicht Gut heißen. Es gab einen riesen großen Streit, doch am Ende war alles wieder gut und sie liebten sich wie zuvor auch. Allgemein wuchs Sebastian sehr behütet auf, mit viel Liebe und allem drum und dran. Für mich klingt es wie ein perfekte Kindheit und auch sonst, wirkt er rundum glücklich. Zwar erzählte er mir, seine Teenager Zeit war nicht so gut. Ihm ginge es nicht so gut zu der Zeit, da er sich selbst viel zu sehr unter Druck gesetzt hat, um bloß seinen Eltern zu gefallen. Das erinnert mich so sehr an meine eigene Jugendzeit, wo doch meine so anders war. Obwohl ich Sebastian halbwegs vertraue, erzähle ich ihm nur die Oberfläche meines Lebenslaufes. Wer kann es mir verdenken, denn wer erzählt beim ersten offiziellen Treffen seine tragische Lebensgeschichte, die Narben hinterlassen hat und zwar nicht nur seelische?

Mittlerweile sitzen wir in einem Restaurant und genießen unser Essen. Ich kaue auf meinem Salat herum, während Sebastian eine Anekdote über seine Kindheit erzählt.

"Und dann hatten wir auf einmal einen Hund namens Fluffy, auf den ich jeden Tag aufgepasst habe und mich gekümmert habe, als wäre es mein bester Freund", lacht er.

Auch ich zwinge mich zu einem Lächeln, aber es erreicht meine Augen nicht, was meinem gegenüber direkt auffällt.

"Du musst mir sagen, wenn ich zu viel rede. Wenn ich einmal angefangen habe, höre ich meistens erst auf, wenn ich den anderen zum Einschlafen gebracht habe. Das habe ich bei meiner Exfreundin wahrhaftig geschafft, aber das erzähle ich dir lieber ein anderes mal", quasselt er weiter.

Er gibt mir eine Minute, bis ich nicht antworte.

"Okay, erzähl schon. Was ist los?"

Ehrlich gesagt weiß ich das selber nicht. Der Tag läuft bis jetzt gut. Mein Geburtstag ist seit langem mal was besonders, aber Sebastian so von seiner glücklichen Familien sprechen zu hören...

Das macht mich nachdenklich und traurig. Ich trauer einer Familie nach, die ich nie hatte und mir immer gewünscht habe. Trotzdem genoss ich jede absurde Geschichte, nur um das kurze Gefühl der Erleichterung zu haben, dass meine eigene persönliche Geschichte nicht der Norm entspricht. Dass andere nicht so ein Leid ertragen mussten wie ich. Und dann kommt das andere Gefühl der Wut und Eifersucht. Mir wurde etwas genommen, was mir niemand zurückgeben kann. Und genau deswegen will ich noch mehr von den glücklichen Geschichten hören, damit sie sich in meinem Kopf abspielen. Schluss mit dem Selbstmitleid!

Das hier ist mein Geburtstag und der soll wunderbar werden.

"Erzähl mir nochmal wie du mit deinem Vater Schlitten gefahren bist", lächle ich und diesmal ehrlich.

Nur weil ich von Schrecken und Leid gesegnet wurde, muss es bei anderen nicht so sein. Und neidisch auf andere sein, sollte ich schon lange nicht.

Stattdessen freue ich mich für Sebastian, für jeden anderen Menschen, dass er nicht so misshandelt worden ist wie ich.

Balsam für meine SeeleWhere stories live. Discover now