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Es ist schwer zu beschreiben, wie man sich fühlt, wenn etwas Unerwartetes passiert.

Ob nun ein plötzlicher Todesfall oder etwas anderes. Es ist wie ein Sprung vom 10 Meter Turm ins Wasser.
Der beginnt schon, wenn man sich in die Schlange stellt. Die Atmung wird flacher, die Hände werden schwitzig. Langsam realisiert man, was man tut oder was passiert.

Sie haben sich in den Jahren nicht verändert. Null und nada. Milkys Vater steht aufrecht wie ein Soldat, die Hände in die Hosentasche gesteckt, die so viel angerichtet haben. Ein klitzekleiner Bierbauch zeichnet seinen Wohlstand aus und wie gut es ihm eigentlich geht. Er hat jahrelang genug Essen auf dem Teller serviert bekommen.

Der nächste Schritt ist es, die Leiter herauf zu klettern. Man ist taub vor Angst. Du spürst nichts außer der Furcht, was als nächstes passieren wird. Was noch Schlimmes auf dich zukommen wird.

Sein Gesicht... es ist wie Milkys nur leicht vom Leben gezeichnet. Ich sehe meinen Bruder mit der Grausamkeit in der Visage. Vor allem seine Augen, sie sind erschreckend. Gewalt spricht aus ihnen heraus, Wut und Unzufriedenheit. Das was Milky ausmacht wie Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, nichts von dem ist bei meinem Stiefvater zu sehen. Nichts. Meine Armhaare sind gesträubt.

Ich stehe am Rand der Plattform, unter mir nichts als Wasser, das beim Aufprall wie harter Beton sein wird. Die Taubheit ist verflogen, das Adrenalin fließt nur so in den Adern. Durch den ganzen Körper, jede Zelle ist betroffen. Du hälst es nicht mehr aus. Das alles ist zu viel für dich. Die Panik steigt und steigt. Du bist kurz vor dem Sprung. Nur noch deine Fersen berühren den Grund.

Meine Mutter.

Wunderschön wie eh und je. Es schmerzt zu sehen, wie sie einen halben Meter hinter ihrem Mann steht. Den Kopf gesenkt, um mich nicht anzusehen. Ihre Tochter, die sie im Stich gelassen hatte. Aber das habe ich auch, doch sie hätte mitkommen können. Aber sie war und anscheinend immer noch, geblendet von der Liebe.

Der Absprung ist das Schlimmste von allem. Der Kopf widerspricht dir, du sollst nicht springen. Das ist vollkommen falsch. Es entspricht nicht der Richtigkeit. Doch du tust es. Du machst den letzten Schritt. Der letzte Schritt zur Wirklichkeit. Du fällst, du schreist und klatscht auf die Tatsachen der Realität. Die Meisten tun sich was. Blutergüsse und Prellungen. Sie bekommen einen Knacks.

Ich bin mir sicher, in dem Moment, als ich die Personen vor denen ich am meisten Angst habe, gegenüber stehe, dass ich aus der Sache nicht heil raus kommen werde.

Ich tauche aus dem Wasser.

~~~

"Wie habt ihr uns gefunden?", frage ich mit abgebrochener Stimme.

"Möchtest du uns nicht erstmal herein bitten?"

Seine eiserne Stimme lässt mich erzittern. Ich fühle mich wieder wie das kleine Mädchen, was sich nicht wehren konnte. Aber ich versuche mich zu erinnern, dass das hier meine Wohnung ist. Dennoch stehen mir die Schweißperlen auf meiner Stirn.

Mein Stiefvater schiebt mich vorbei und tritt ein. Einfach so, ohne meine Erlaubnis. Mir sind die Hosen zu voll, um dagegen was zu sagen. Sei gegrüßt Mädchen aus der Vergangenheit. Seine Frau schleicht sich an mir vorbei und noch immer darauf bedacht, mich nicht anzusehen. Es kann nur Schlimmes auf mich zukommen. Der Weltuntergang steht uns kurz bevor.

Die Frage, die ich mich frage, ist, ob ich gar nicht alleine hier bin. Zum Glück fällt es nicht auf, dass ich eine andere Türe öffne und muss keine Fragen beantworten. Das habe ich zwar nicht vor, nichtsdestotrotz müssen sie meinen Besuch nicht kennenlernen. Oder eher der Besuch die Beiden. Wie soll ich Sebastian unbemerkt aus der Wohnung schmuggeln? Dringendst muss ich meinen Bruder erreichen und ich sollte mir was anderes anziehen.

"Wartet fünf Minuten, dann bin ich soweit mit euch zu reden.", teile ich mit und lasse sie stehen.

Als erstes renne ich in mein Zimmer und wähle Milkys Nummer mit meinem Handy. Gleichzeitig ziehe ich mich aus und -wegen Zeitgründen- ziehe ich das Gleiche wie gestern an. Nochmal wähle ich seine Nummer und renne diesmal ins Wohnzimmer. Sebastian liegt in Embryostellung auf meinem Sofa und in jeder anderen Situation hätte ich das zuckersüß empfunden.

Das 3. Mal wähle ich seine Nummer und diesmal kommt direkt die Mailbox. Entsetzt höre ich mir die Mailbox Benachrichtigung an. Kurz darauf spreche ich ihm was drauf: "Du verdammter Idiot! Mach dein Handy wieder an und komm sofort nach Hause. Krisensituation. Alarmstufe dunkelrot. Bitte Bruder. Komm nach Hause so schnell es geht. Wenn du mich lieb hast, beeile dich und rette mich"

"Wasn los?", brummt Sebastian.

So wollte ich ihn eigentlich nicht wecken...

"Es tut mir leid, aber du musst nach Hause gehen. Ich habe unerwarteten Besuch von meinen Eltern bekommen und ich möchte nicht dass ihr euch begegnet. Das ist nichts Persönliches dir gegenüber, aber das ist besser wenn du jetzt gehst. Bitte geh."

Gerade noch liegt er und schon steht er vor mir und begutachtet mich. Mir ist wohl meine Verzweiflung anzusehen. Ohne Fragen zu stellen, zieht er sich an, währenddessen schreibe ich Milky eine Nachricht.

'SOS. Unsere Eltern sind da. Weiß noch nicht weshalb. Bitte lass alles stehen und liegen und komme her. Brauche dich.'

Alle meinen vorherigen Nachrichten sind schon nicht angekommen und er macht sein Handy aus, nachdem ich ihn mehrmals angerufen habe. Mein schlechtes Gefühl wird noch übler. Ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch, das alles ist zu viel. Es geht nicht. Wie soll ich meine Eltern überleben ohne meinen Bruder? Früher konnte ich das auch nicht. Weshalb sollte es jetzt anders sein?

"Liv. Klartext, was ist los?", fragt Sebastian.

Aber ich kann es ihm nicht sagen. Was würde er nur von mir denken, wenn ich meine Vergangenheit preisgebe. Er würde mich nicht mehr mögen und mich als eine schwache Person sehen.

"Ich sehe deine Angst. Wovor hast du sie? Sind wirklich deine Eltern da oder jemand anderes?"

Ich schüttel den Kopf. Er... ich...nein. Es ist zu früh um ihm das zu erzählen.

"Bitte geh einfach.", murmel ich, obwohl ich nicht möchte, dass er meine Wohnung verlässt. Alleine mit meinen Eltern möchte ich nicht sein.

Statt zu gehen, nimmt Sebastian mein Handy in die Hand und speichert seine Nummer ein.

"Wenn du mir später keine Nachricht schickst, mache ich mir Sorgen und komme vorbei um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Wenn du Hilfe brauchst, melde dich, denn du siehst aus, als wäre dir eine Laus über die Leber gelaufen. Pass auf dich auf!"

Er gibt mir mein Handy zurück und geht ohne noch ein Wort zu sagen.

Und ich gehe in die Unterwelt.

In meinen Untergang.

Balsam für meine SeeleWhere stories live. Discover now