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Man kann Menschen nicht in Gut und Böse einteilen, vor allem da die Linie verschwommen ist. In jedem schlechten Menschen ist etwas Gutes und in jedem guten Menschen etwas Schlechtes. Dazu kann das Gute nicht ohne das Böse existieren; das Gleichgewicht muss erhalten bleiben.

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Mittlerweile ist es spät am Abend und weitergekommen sind wir nicht. Wir sind zu keiner Lösung gekommen. Ich frage mich, ob man das überhaupt kann. Durch eine Rechnung kommt man zum Ergebnis, aber hier geht es um was ganz anderes. Um Gewissen, Hilfsbereitschaft und ja, auch ein bisschen Liebe. Es gibt zu viele Möglichkeiten, aber jede fühlt sich falsch an. Ich fühle mich bei jeder einzelnen Idee immer furchtbarer.

Wir können zur Polizei gehen, weil Twix uns droht und somit definitiv ins Gefängnis kommen kann. Aber das hätten wir schon früher machen können und jetzt fühlt es sich noch falscher an. Als ob sie uns glauben würden, das kann ich mir nicht vorstellen. Früher kam mir schon der Gedanke, statt abzuhauen, zur Polizei zu gehen. Doch davor habe ich zu viel Angst und laufe lieber davon. Jetzt habe ich den Salat und keinen Obstsalat, der gut schmeckt.

Milky gähnt laut und sieht mich müde an. Auch ich würde liebend gern zu Bett gehen, aber mir ist bewusst, dass ich kein Auge zu machen kann. Dafür sind die Gedanken und Sorgen noch zu laut.

"Geh ruhig schlafen. Du siehst völlig kaputt aus und das hilft uns beiden auch nicht weiter", sage ich und trinke aus meinem Glas einen Schluck. Ich bin auf Cola umgestiegen.

"In Ordnung, auch wenn mir nicht wohl dabei ist.", entgegnet Milky und steht auf. Er schaut aus, als ob er jeden Moment völlig erschöpft zusammenbricht. Das was mit ihm los ist, muss ich auch noch klären. Aber erst eins nach dem anderen.

"Erholsame Nacht und schöne Träume, Schwesterherz", wünscht er mir. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und dann geht er.

Nun sitze ich alleine im Wohnzimmer und weiß nichts mit meinem Leben anzufangen. Und das Gefühl vergeht nicht, dass ich noch etwas erledigen sollte. Nur was ist die entscheidende Frage.

Laut seufze ich und nehme mein Smartphone in die Hand, denn die Wand anzustarren, bringt auch nichts. Automatisch wische ich zu meinen Apps, wie Whatsapp und diversen Spiele, die ich nie benutze. Mir kommt der Schock, als ich Tumblr nicht entdecke, aber dann fällt mir ein, dass ich es deinstalliert habe. Kaum zu glauben, aber das ist nur ein paar Tage her und fühlt sich an wie Monate. Nur vage erinnere ich mich an den Post, von dem ich einen Screenshot gemacht habe. Schnell öffne ich meine Galerie um ihn nochmal durchzulesen.

Entscheide dich weise, für das was du möchtest, doch sei nicht zu angespannt. Höre auf dein Bauchgefühl. Es gibt nicht nie einen Ausweg. Kein Problem ist zu schwer, dass man es nicht gelöst bekommt. Hole dir Rat, aber am Ende bist du es, die über dein Leben entscheidet. Es ist deins und du musst damit zufrieden sein und niemand anderes.

Irgendwie ironisch, wie ich finde, diese Passage. Als ob mich jemand extra verhöhnt. Verdammt, mir ist das alles sehr klar. Ich muss entscheiden, wie ich handel. Aber hat der Verfasser schon mal ein Problem gehabt, wie meins zurzeit? Er hat recht, definitiv. Keine Ahnung, was ich möchte, aber dafür bin ich angespannt. Dazu habe ich Milky um Rat gefragt, da er auch betroffen ist, doch ihm fällt auch nichts ein. Wen habe ich denn sonst?

Elexis ist zwar meine Ersatzmutter und sie weiß auch einiges aus meiner Vergangenheit, aber den Knackpunkt nicht. Und wie soll ich ihr das bitte erklären? Und meine größte Sorge, dass sie mich dann aus anderen Augen sieht. Das kleine ängstliche Mädchen, was misshandelt wurde. Das Gleiche gilt mit Sina, nur dass sie noch weniger weiß von mir. Wir sind mehr: Hast du diesen Film gesehen, das Lied gehört und das Buch gelesen, Freunde. Ich habe sie lieb, aber ich denke, diese Dunkelheit meinerseits würde sie nicht verkraften können.

Auch Sebastian kommt mir in den Sinn, doch wir kennen uns nicht lange genug. Zwar weiß ich viel von ihm, da er ein offener Mensch ist aber wann kann man jemandem seine Lebensgeschichte erzählen? Bei ihm bin ich mir sicher, dass er geduldig zuhört und mich nicht verurteilt. Aber ich mag ihn und möchte keinen neuen Freund verschrecken.

Weshalb muss das so schwierig sein? Warum habe ich niemanden, bei dem ich mich ohne Bedenken öffnen kann? Ich bin so sozial inkompetent, dass es verdammt traurig ist.

Aber das bringt mich auch nicht weiter. So langsam muss eine Lösung her, bald ist Mitternacht und dann können sie jeden Moment auftauchen. Zwar werden sie vor dem Vormittag nicht erscheinen, aber da sollte ein Plan stehen.

Still sitzen fällt mir schwer, deswegen tiger ich von rechts nach links und denke nach und nach.

Polizei wäre eine Option, aber eine der letzten.

Und was ist, wenn ich ruhig meinen Eltern die Sache erkläre. Dass wir nicht genügend Geld haben und gerade so über die Runden kommen? Aber Twix wird sich damit nicht begnügen, das hat er mir schon klar gemacht. Doch wie wäre es, ein Teil abzubezahlen, sodass ich leicht mein Konto überziehe und ihnen aus der Patsche helfe. Meine Mutter kann wieder arbeiten gehen und Schritt für Schritt alles abbezahlen. Oder aber, ich schicke sie einfach so weg und überlasse sie ihrem eigenen Schicksal. Nur sie können uns immer wieder abfangen, da sie wissen wo wir wohnen und wegziehen ist keine Option.

Wie wäre es, wenn ich nur so ein Gespräch mit ihnen suche? Aber Twix ist da zu stur und meine Mutter hat keine Macht. Würde Twix nicht existieren, wäre es einfacher. Dann würde ich meine Mutter hier einquartieren und ihr helfen über eine Privatinsolvenz, ihre Schulden abbezahlen.

Wie ich es auch drehe und wende, ich komme zu keiner Lösung. Das hängt mir langsam zum Halse heraus. Jetzt im Bett zu liegen und nie wieder rauszukriechen, ist mein Wunsch, für den Rest meines Lebens. Nein! Das möchte ich auch nicht.

Schon fast sehe ich Rauchwolken über meinem Kopf aufsteigen. Nochmal seufze ich laut. Morgen muss ich auch noch arbeiten und weiß nicht, ob ich mir frei nehmen soll. So würde ich meinen Eltern davon laufen, wenn sie morgens herkommen. Dazu weiß ich nicht, wie ich mein entstelltes Gesicht nicht mehr entstellt aussehen lassen kann. Mit Schminke habe ich nicht viel am Hut.

Für was ich mich auch entscheiden mag, schlafen sollte ich. Jetzt ist es nach Mitternacht und um sieben ist Schichtbeginn. Ich neige dazu arbeiten zu gehen, weil ich nicht alles stehen und liegen lassen will, nur wegen meiner Eltern.

Deswegen beende ich mein sinnloses Nachdenken und gehe ins Bad, um mich bettfertig zu machen.

Just im Moment betätige ich die Toilettenspülung, als es an der Tür klingelt.

Fuck.

Balsam für meine SeeleWhere stories live. Discover now