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Meine ehemaligen Mitschüler hatten ein Gespräch übers Ritzen; ich wollte sie nicht belauschen, aber sie saßen neben mir und so entging es mir nicht. Sie haben darüber geredet, wie sie zu diesem Thema stehen und haben alle abgewinkt, dass sie es schon mal getan haben. Nur eine Person nicht, sie hat sich dazu geäußert und kein Verständnis bekommen. Ich dagegen habe imaginär meinen Hut vor ihr gezückt, weil sie sich getraut hat, darüber zu sprechen. Sich eingestanden hat, dass sie sich regelmäßig selbst verletzt und dadurch für sich vieles erträglicher macht. In dem Moment war ich ein wenig überfordert, da ich noch nie mit dieser Thematik konfrontiert wurde. Ich wusste nicht, ob ich meine Mitschülerin darauf ansprechen soll oder nicht. Immerhin ging es ihr schlecht, aber ich als Person kann nichts ausrichten. Das dachte ich jedenfalls und versuchte die Sache zu vergessen.

Jahre später wurde ich nochmal damit konfrontiert und diesmal wegen mir selbst. Ich habe mich nie selbst verletzt, aber war immer kurz davor. Oft ist die Wut, die Verzweiflung und die Angst, die ich in diesem Moment verspürt habe, so heftig gewesen, dass ich mir weh tun wollte. Um mich abzureagieren und etwas anderes zu spüren.

Ich habe es bis jetzt geschafft, dagegen anzukämpfen, aber die Versuchung ist groß und ich habe Angst, dass sie mich irgendwann übermannt.

~~~

Sebastian sitzt neben mir Oberkörperfrei. Beim Erzählen habe ich das nicht bemerkt, aber jetzt verstehe ich die Welt nicht mehr. Nicht dass ich es vorher schon getan habe. Ich springe auf und fliehe zum anderen Ende des Zimmers.

"Lasse mich erklären", sagt Sebastian ruhig.

"Willst du mich verarschen? Ich erzähle dir meine Geschichte und du ziehst dich aus?!"

Sebastian steht auf und kommt langsam auf mich zu.

"Ich möchte dir nicht 0815 sagen, dass es mir leid tut. Natürlich tut es mir leid, was dir passiert ist, aber das hilft dir nicht weiter. Auch nicht, dass ich gerade einen totalen Hass auf deine Mutter und Twix habe. Du hast dich entblößt und das mache ich gerade auch. Nicht nur, weil ich mich ausgezogen habe, sondern noch wegen etwas anderem. Auch ich möchte dir etwas erzählen, damit wir beide vollkommen entblößt sind.
Bereits hatte ich dir erzählt, was für einen riesen Druck ich hatte. Mit meinen Eltern, dass ich Arzt werden soll und drum und dran. Dass ich nie genug war, meine Noten immer noch besser sein konnten und ein schlechter Sohn bin... Sieh dir mein Bauch an, Liv"

Er kommt einen Schritt entgegen und ich schaue auf seinen Bauch. Erst weiß ich nicht, worauf ich denn achten soll, bis ich die Narben sehe. Narben von Wunden, die sehr tief waren. Diese Narben werden nie verblassen und ich weiß woher sie kommen.

"Du hast dich geritzt?", frage ich.

"Ja, das habe ich und ganz viele andere schlimme Dinge. Ich habe Schlaftabletten geschluckt, weil ich nicht mehr aufwachen wollte. Ich habe mir vorgestellt, wie es ist vor einen Zug zu springen, oder U-Bahn oder andere Dinge, die mich getötet hätten. Was passieren würde, wenn ich wirklich tot wäre. Ob jemand um mich trauern würde. Hiermit möchte ich kein Mitleid, ich möchte nur, dass du siehst, dass andere Menschen auch ihre Geschichten haben und es besser werden kann. Ich kann dir helfen, das mit deinem Stiefvater zu regeln und auch andere Dinge. Tut mir leid für den Überfall, ich ziehe mich wieder an."

Bevor er sich bewegen kann, halte ich ihn auf, weil ich seine Narben genauer betrachten möchte. Ich spüre seinen Blick auf mir, als ich mit meinen Fingern die Striche nachziehe. Er hat sich so brutal geschnitten und sehr oft, sehr oft. Es tut mir weh sie anzusehen, aber gleichzeitig finde ich es interessant.

"Trotz den Jahren habe ich immer noch Probleme ins Schwimmbad zu gehen oder am Strand zu liegen.", meint er.

"Du bist trotzdem wunderschön.", rutscht mir heraus. In Panik schiebe ich einen Witz noch hinterher. "Aber ich ziehe mich jetzt nicht aus, wenn das für dich in Ordnung ist."

Er lacht schallend.

"Wenn du das schon sagst, fände ich es nicht schlecht, wenn du dich auch ausziehen würdest.", neckt er mich, währenddessen nehme ich die Finger von seinem Bauch.

Stattdessen schlinge ich die Arme um ihn.

"Danke", flüstere ich.

~

Sebastian und ich sitzen nebeneinander auf dem Sofa und sehen auf den ausgeschalteten Fernseher. Und ich muss sagen, ich bin ein wenig entspannter. Ich habe mich jemandem anvertraut und dieser hat es verstanden, nur bin ich selber noch etwas verwirrt von Sebastians Outing. Er hatte mir zwar erzählt, wie es ihm ging, aber das es so schlimm war, hätte ich nicht gedacht. Viele Fragen über ihn fliegen in meinem Kopf herum, die ich gerne stellen würde, aber ihm möchte ich nicht zu nahe treten.

"Ich kenne dich jetzt schon genug, um zu wissen, dass dir etwas auf dem Herzen liegt. Also spuck schon aus, Liv", meint Sebastian amüsiert. Mittlerweile ist er wieder so locker wie eh und je.

"Einige Fragen stelle ich dir nicht, weil sie zu typisch Liv sind und in meinem Gehirn für immer weilen müssen. Aber ich habe noch nie gehört, dass sich jemand am Bauch schneidet. Weshalb da? Und wie kamst du aus der ganzen Sache heraus?", kommt es wie aus der Pistole geschossen.

Sebastian lacht kurz auf, aber reißt sich schnell wieder zusammen.

"Ich habe den Bauch ausgewählt, weil dort niemand so schnell einen Blick drauf werfen kann. Die Arme kann man schnell entblößen. Alleine im Sommer, du läufst normalerweise nur in Shirts rum. Viel drüber nachgedacht habe ich nicht, nur mir war sofort klar, dass die Arme heil bleiben müssen. Damit meine Eltern und jeder andere auch sieht, dass ich heil bin. Es zu vertuschen, war meine größte Aufgabe zu diesem Augenblick und mir auch selber vorzumachen, dass alles in Ordnung kommt. Von alleine, aber das passiert nicht. Ich bin morgens aufgewacht, das Tablettendöschen neben mir und wollte nicht mehr. Damit meine ich, ich wollte nicht schon wieder Tabletten nehmen in der Hoffnung nicht mehr aufzuwachen. Also handelte ich sofort. Von allen meinen Mitmenschen die mich noch kränker machten, habe ich mich abgewendet und endlich auf mein Bauchgefühl gehört. Blöde Ausdrucksweise, ich weiß. Was ich wollte und entschied mich dafür. Dazu hat mir meine professionelle Hilfe mich weitergebracht und geholfen, sodass ich mit dem Scheiss aufgehört habe. Jetzt habe ich ein glückliches Leben, voller Freude und alles was dazu gehört. Es war hart, aber es lohnt sich wenn man an seinem Ziel angekommen ist. Es lohnt sich, immer zu leben, auch wenn es oft einfach nur beschissen wirkt."

Es wird warm um meinem Herzen und es kribbelt überall. Keine Ahnung weshalb, aber ich fühle mich gut. Vielleicht, weil alles ausgesprochen ist zwischen uns. Geheimnisse habe ich jedenfalls nicht mehr ihm gegenüber und zu wissen, wie es in seinem Inneren aussieht, ist auch schön. Wir haben uns gegenseitig psychisch ausgezogen und das ist besser, als sich gegenseitig die Klamotten von den Körpern zu reisen. Er ist mir vertraut und auch seine...

"Warte mal. Diese Worte kommen mir total bekannt vor.", fällt mir plötzlich ein.

Ich schnappe mir mein Handy, gehe auf meine Galerie und drücke auf meinen Screenshot. Aufgeregt rücke ich zu Sebastian auf, sodass ich fast auf ihm drauf sitze und halte ihm mein Handy vor die Nase. Mein Herz schlägt mir bis zum Herzen. Das kann wirklich nicht sein. Die Wahrscheinlichkeit ist viel zu gering.

"Das hatte ich gepostet vor Wochen. Weshalb hast du das gespeichert? Ich bin verwirrt.", meint Sebastian ratlos.

Verdammt. Das ist so komisch. Verrückt. Unheimlich und typisch Ich.

"Dieser Post hat mich fasziniert und ich habe stundenlang gegrübelt, welche Person wohl dahinter stecken mag. Wie es ihr geht und was in ihrem Leben vorgeht. Dass du diese Person bist, wow."

Fassungslos schüttel ich den Kopf. Das ist doch ein schlechter Witz.

Sebastian legt das Handy auf den Tisch zurück, stattdessen nimmt er mich in den Arm.

"Was das Schicksal noch so alles für uns bereit gelegt hat, werden wir wohl bald erfahren", murmelt er mir ins Haar.

Seit Stunden langem Stress, entspanne ich und schließe die Augen. In seinen Armen fühle ich mich sicher, als könnte mir nichts passieren.

Als würde nichts an uns rankommen.

Wir sind unbesiegbar.

Balsam für meine SeeleWhere stories live. Discover now