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Irgendwann fing es an, dass ich Panikattacken bekam und die wurden begleitet von Flashbacks meiner schlimmsten Erinnerungen.

Manchmal treten sie urplötzlich auf, sodass ich still vor mir her starre und nichts mehr um mich herum wahrnehme. Nur mich, die Leere in mir und die Erinnerungsfetzen.

Manchmal bekomme ich Panikattacken wegen einer Kleinigkeit. Fange an zu schreien, lauthals zu weinen und oft schlage ich gegen meine Zimmerwand.

Aber auch fühle ich mich in vielen Situationen eingeengt, dabei wird mir schlecht und Nervosität breitet sich in mir aus. Dazu noch Luftnot und Erinnerungen, die mich verfolgen, macht alles perfekt.

Perfekt, indem ich nicht mehr Herr meiner Sinne bin und für Außenstehende völlig verrückt erscheinen mag.

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Ich brauche einen ruhigen Ort, ich brauche meine Ruhe, ich kann das nicht mehr.

Meine Gedanken kreisen nur noch im Kreis. Ohne Start und Ziel. Ohne Konzept. So auch renne ich verwirrt durch die S-Bahn Station und Sebastian mir hinterher.

Zu viele Menschen, hier sind viel zu viele Menschen. Ich laufe einfach geradeaus, immer geradeaus. Die Treppen hoch und über die Straße. Mir egal, wenn ich von einem Auto überfahren werde. Mir wäre es just im Moment sehr recht.

Es ist, als wäre ich in einer Blase gefangen. Nur mit mir und viel zu wenig Luft, massenhaft Menschen um mich. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Die Luftblase zerstören und Totgetrampelt werden. Doch ist es jemand anderes als ich selber, der mich daraus rettet und vor dem Zertrampeln rettet.

"Liv! Liv!", schreit er mich an und sieht mich mit einem in Panik versetzten Blick an.

Er fasst mir an die Schultern und zieht mich und schüttelt mich, als ob er mich zurück zum hier und jetzt führen will. Als wäre ich komplett verrückt. Aber bin ich das nicht?

Sebastian stiert in meine Augen, als würde er in mein Inneres eintauchen wollen. Und sofort verliere ich mich in seinen Augen und kann die Mitmenschen ausblenden, meine ganze Umgebung und das nur durch sein Augenpaar.

"Panikattacken entstehen unter anderem in Stresssituationen. Bei manchen Menschen führt das dazu, dass ihr Fluchtinstinkt aktiviert wird und wir weg laufen. Blindlings und vor allem so weit weg und schnell wie nur möglich. Menschen sind komische Tiere, dennoch gleichzeitig faszinierend. Vor allem, ihr Paarungsverhalten", lacht er und sieht weiter in meine Augen, als wäre es das Einzige auf dieser Welt. Langsam schließt sich meine Blase um uns beiden herum, sodass ich nicht mehr alleine bin. Statt dass die Luft weniger wird, bringt Sebastian neuen Sauerstoff herein. Dazu nimmt er zum Glück die Hände von mir, was sonst kontraproduktiv wäre.

"Du bist sogar ziemlich sportlich. Dein Sprint könnte Timo Werner Konkurrenz machen. Vielleicht solltest du eine Karriere als Fußballerin in Betracht ziehen, ich glaube du wärst eine gute Stürmerin. Klein, flink und schnell. Schade nur am Frauenfußball ist, dass sie so wenig Geld bekommen, dass sie gerade um die Runden kommen oder sogar einen 2. Job brauchen. Dafür aber die Kerle stinkreich sind, das mal nur am Rande der Ungerechtigkeit in dieser Welt."

Seine Taktik ist wohl so viel zu reden, dass ich mich nur darauf konzentriere. Und ja, es funktioniert sogar ziemlich gut. Umsomehr er über Fußball spricht, desto ruhiger werde ich. Als er zu erzählen begann, dass Männer die waren Pussies sind und nichts aushalten können, versiegen meine Tränen und meine Atmung normalisiert sich. Übrig bleibt ein hässlicher Schluckauf.

"Es tut mir so wahnsinnig Leid.", flüster ich reumütig und beschämt.

Ich schäme mich so sehr. Warum musste ich wieder so einen Aufstand machen? Weshalb kann ich nicht einmal ein ganz normaler Mensch sein? Ein ganz normales Mädchen.

"Ach vergiss es. Eins musst du wissen über mich. Dir muss bei mir nichts peinlich sein, sodass du dich schämen musst. Vor allem nicht bei so welchen Sachen, für die du nichts kannst. Also... du verstehst schon, was ich meine. So Gefühlsduselei habe ich echt nicht drauf. Muss ich noch etwas Lebenswichtiges wissen, damit ich keinen Herzinfarkt bekomme, falls nochmal was passiert in dieser Art? Fehlt dir ein Zeh und wenn jemand auf dein Fuß tritt, humpelst du davon?"

Gott, ist er ein Idiot.

"Ich habe alle Körperteile, falls du das wissen willst, so als ein ehemaliger Medizinstudent. Eigentlich ist mit mir alles in Ordnung"

Doch meine kleine innere Stimme fragt sich, ob wirklich alles in Ordnung mit mir ist. Denn sie weiß, dass es nicht so ist.

"Ich glaube nicht, dass wir je einen Tag erleben, wo alles in Ordnung ist. Und wenn doch, schenke ich dir etwas nach deiner Wahl. Jetzt lass uns zu Felix gehen, ansonsten ruft er die Polizei an, weil wir nicht pünktlich kommen"

Somit ist mein Vorfall vergessen, als wäre nie was passiert. Als wären wir ganz normal aus der S-Bahn gestiegen und das schätze ich Sebastian hoch an.

Sozusagen müssen wir nur in die nächste Straße einbiegen und wir befinden uns vor der Wohnung. Die zwei Minuten verliefen schweigend, was hätte man auch sagen sollen? Wir haben heute schon soviel gesagt, dass ich Sebastian ein wenig mit anderen Augen sehe. Es würde mich nur mal interessieren, wen er sieht, wenn er mich anschaut.

Er drückt auf die Klingel und eine Sekunde später ertönt das Freizeichen der Tür. Plötzlich hellt sich das Gesicht von Sebastian komplett auf und er nimmt mehrere Treppen auf einmal, sodass ich nur schwer hinterher komme. Es ist so, als wäre er ein kleines Kind und würde nun seinen besten Freund aus dem Kindergarten treffen. Es ist sehr niedlich.

Vor allem, als wir im richtigen Stockwerk ankommen und schwungvoll die Tür geöffnet wird.

Den jungen Mann würde ich mal als Felix identifizieren, der ein Touch Asiate mit sich trägt, gefärbte Haare hat und einige Tattoos. Vielleicht Bulien Jam? Ihn in einem Arztkittel ist unvorstellbar und gleichzeitig habe ich es genau vor Augen.

Sebastian und Felix grinsen sich an und begutachten sich von Kopf bis Fuß.

"Du hast eine neue Haarfarbe", kommentiert Sebastian auf Felix dunkel blaue Haare.

"Du siehst auch gut aus"

Und dann fallen die beiden sich in die Arme, als hätten sie sich Jahre nicht mehr gesehen. Diese Szene rührt mich irgendwie auf eine bestimmte Weise. Ich habe noch nie zwei Jungs gesehen, die sich so herzlich begrüßen, als wären sie Brüder. Zu meiner Verteidigung, ich habe noch nicht wirklich eine Männerfreundschaft beobachtet und kann das hier nicht richtig analysieren. Aber man merkt, die beiden verbindet mehr als ein früherer Studiengang.

Und das freut mich, dass andere Menschen ihre bessere Hälfte finden. Das sie ihren Seelenverwandten treffen.

Balsam für meine SeeleWhere stories live. Discover now