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Da ich schon immer gerne gelesen habe, habe ich auch angefangen zu schreiben. Auch ich wollte Texte verfassen, die anderen Menschen fühlen und berühren lassen. Ich wollte, dass Menschen über meine Worte nachdenken und spekulieren, wie ich das gemeint habe. Es war mir ein Wunsch, dass sie mein Buch nicht aus der Hand legen können und im Alltag immer wieder an die Protagonisten nachdenken müssen. Es wäre mir eine große Ehre, wenn Zitate aus meinen Büchern zitiert werden würden.

Wie ein Musiker gehört werden möchte, wollte ich gelesen werden. Ich habe meine eigenen Lebensgeschichten in verschiedenen Texten, Romanen und Kurzgeschichten verpackt. Es hat mir geholfen, die Gedanken aufschreiben zu können, aber irgendwann, da habe ich wie aus dem nichts aufgehört. Und ohne, dass jemand sie gelesen hat, aus Angst ausgelacht zu werden oder Missverständnis zu bekommen.

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Ich lächle. Nein, ich strahle sogar wie der hellste Stern am Horizont. Immer wieder fasse ich mir an die Lippen, als würde ich so Sebastians Lippen wieder spüren können. Es war nur ein Kuss und naja, das Befummeln. Vor meinem innerlichen Auge wiederholt sich die Szene immer und immer wieder und ich bereue nichts. Für andere ist das vielleicht wenig, was bei uns geschehen ist. Doch für mich ist das ein großer Schritt.
Nicht ohne Grund bin ich noch Jungfrau, mal davon abgesehen, dass ich mir damit immer Zeit lassen wollte. Aber mit Markus wäre es falsch gewesen und im Nachhinein war es wirklich das Richtige, es nicht zu tun. Durch meine Misshandlungen habe ich immer mehr Probleme mit Nähe und den Bezug zu meinem Körper verloren. Sich vor jemandem auszuziehen, ist immer undenkbar gewesen, da ich nicht mal in den Spiegel gucken kann. Sebastian löst bei mir Sachen aus, als würden meine Probleme nicht existieren oder eher minimal gemacht. Dafür bin ich ihm dankbar, auch wenn es anders gelaufen ist, als überhaupt gedacht.

Ob wir jetzt zusammen sind, keine Ahnung. Wie meine Gefühle ihm gegenüber sind, keine Ahnung, aber ich mag ihn und er tut mir gut. Vielleicht entwickelt sich aus uns etwas, oder wir bleiben nur Freunde. So lange er bei mir bleibt.

Eigentlich warte ich auf Milkys Rückkehr, aber ich bin viel zu aufgedreht, um nur zu warten. Sebastian musste weg, da seine Eltern auf ihn warten, zum wöchentlichen Abendessen, und somit bin ich alleine. Ich finde das nicht schlimm, so ist es für mich nicht peinlich, da mich niemand sieht, wie ich zur lauten Musik mit singe und tanze und dämlich vor mir her lächel. Es ist so verdammt schön.

Gerade will ich zum nächsten Lied mitgrölen, als die Tür aufgeschlossen wird. Keine Ahnung, wie ich das Gespräch anfangen soll und was es genau beinhalten soll, aber ich fühle mich unbesiegbar. Schnell schließe ich Spotify und bewege mich zum Flur, wo mein Bruder alleine ist. Auch er sieht glücklicher aus als sonst.

Milky sieht mich an und gleichzeitig signalisieren wir, dass wir reden müssen. Schweigend setzen wir uns in die Küche. Nun fühle ich mich doch nicht mehr so sicher, trotzdem fange ich an mich zu erklären.

"Als Erstes finde ich nicht gut, dass du mich angelogen hast, wo du an meinem Geburstag gesteckt hast. Dazu gehört auch, dass du mir verschwiegen hast, dass du eine Schwester hast und mit deiner Mutter Kontakt hast. Zwar kann ich es auch verstehen, da du ja anscheinend ein Elternteil hast, das normal ist und mir nichts davon erzählt hast. Du musst mir nicht alles erzählen, das will ich gar nicht. Aber so ein großes Ding hätte ich echt gern gewusst, bevor aus dem nichts deine Schwester auftaucht und dann die Bombe platzen gelassen hat. Hazel hat recht, ich bin nicht deine Schwester im herkömmlichen Sinne und ich kann dich nicht aufhalten, zu gehen. Aber hast du nur einen Moment an mich gedacht? Alleine kann ich mir die Wohnung nicht leisten und dann muss ich auch umziehen. Vielleicht auch meinen Job wechseln, was das Letzte ist, was ich möchte. Ich habe keine Familie außer dich. Du darfst nicht gehen."

Still schweigend schaut er durchs Fenster, scheint weit weg zu sein in seinen Gedanken und dadurch werde ich wütend. Ihn scheint die ganze Situation nicht zu interessieren.

"Auch ich verstehe dich, aber sehe es anders. Ja, du bist meine Familie und ich liebe dich. Aber es kann nicht immer um dich gehen, tut mir leid. Das klingt hart, doch ich habe für dich so viele Sachen aufgegeben, sodass ich Mal eigensinnig bin. Extra habe ich dir nichts erzählt, weil ich wusste, dass du daraus eine riesige Sache machen würdest und darauf hatte ich keine Lust. Ich wollte ein Geheimnis für mich haben, eine eigene Sache und es war nicht meine Idee umzuziehen. Nicht, dass du denkst, dass ich unbedingt von dir weg möchte. Aber Olivia, wir hängen seit unserer Kindheit zusammen und nie waren wir nur auf uns gestellt. Endlich möchte ich mal tun und lassen, was ich möchte, ohne an dich denken zu müssen, ob du einverstanden bist. Du bist meine Schwester, das wirst du auch bleiben, aber ich möchte ein eigenes Leben. Dazu habe ich noch eine kleine Schwester, die bezaubernd ist und an deren Leben ich teilhaben möchte. An meine Mutter habe ich keine einzige Erinnerung und mein Stiefvater ist ein klasse Typ. Kaum zu glauben, aber ich besitze auch Großeltern. Ich möchte etwas neues erleben, in einer neuen Stadt und mit meiner Familie. Als mir dieses Angebot gemacht wurde, war mir sofort klar, dass ich es annehmen werde. Es fühlt sich richtig an. Und ich habe an dich gedacht, überlegt ob du nicht mit möchtest. Du könntest dein Abitur nachmachen und endlich auch das machen, was du möchtest. Du wolltest mal Autorin werden und deine Bücher neben anderen Klassiker stehen sehen. Erinnerst du dich? Du könntest Schreibkurse belegen, einem Verlag deine Bücher schicken und und und. Die Welt ist für dich offen und anstatt das auszunutzen, entwickelst du dich nicht weiter. Lasse die alten Geister zurück, denke erst nicht dran, Twix das Geld zu geben und lebe einfach mal."

Wow. Einfach wow. Mir fehlen die Worte. Er ist unfair zu mir und seine Ausreden schwach. Mein Hitzkopf erhitzt sich.

"Du bist ein Idiot. Nie habe ich dir befohlen, was du machen kannst oder nicht. Immer habe ich den Mund gehalten, als das nächste Mädchen in dein Zimmer ging. Oder als du deine Vorlesungen geschwänzt hast und immer öfter stockbesoffen nach Hause kamst, obwohl du wusstest, was ich für Probleme damit habe. Du hast dich nicht zum Guten verändert. Einst warst du für mich da und hast dir noch Sorgen um mich gemacht, wenn ich immer mehr Mahlzeiten ausgelassen habe. Für deine Veränderung bin ich nicht schuld und im Weg stand ich dir auch nicht. Wäre es anders angekommen, wäre ich mit dir umgezogen. Aachen soll immerhin eine schöne Stadt sein. Aber so, mir wird schlecht bei deinem Anblick. Ohne Rücksicht auf Verluste machst du dein Ding, obwohl ich diejenige bin, die fällt. Ich frage mich, ob du je wirklich für mich da warst oder nur geschauspielert hast. Wann wird der Umzug stattfinden?", lasse ich meine Wut heraus.

Milky bleibt ruhig und das macht mich nur noch wütender. Als würde er nicht mit der Sprache rausrücken oder ihm alles gleichgültig sei.

"Die nächsten Tage werde ich immer wieder meine Sachen zu meiner Mutter bringen und dann wird alles sehr schnell gehen. Zur Uni werde ich dann pendeln müssen, aber das wird auch kein Problem darstellen. Es würde sich nicht mehr lohnen, zu wechseln, bis ich meinen Master habe."

Okay. Ich muss mich beruhigen, sonst raste ich gleich aus. Aber ich kann ihn nicht mehr ertragen. Dieser Verrat tut mir zu sehr weh, als dass ich meinen Bruder neben mir akzeptiere. Ha, dass ich nicht lache. Mein Bruder, was für ein Schwachsinn. Mir ist bewusst, dass ich eine schwierige Person bin. Anhänglich und immer nach Liebe lechzend. Selbstzerstörerisch und verrückt. Aber das hier. Nein, einfach Nein. Das habe ich nicht verdient. So zurückgewiesen zu werden, ist zu viel. Um zu weinen, bin ich viel zu hohl. Ich fühle mich leer, als würde mir alles nichts anhaben können. Aber tatsächlich schmerzt es nur.

"Du gehst jetzt. Mir egal wohin. Zu Hazel und Rachel, von mir aus. Wenn ich dir nicht geben konnte, was du wolltest, in Ordnung. Doch ich möchte dich eine zeitlang nicht sehen. Du hast eine neue Familie und da pass ich nicht rein. Deswegen gehst du weg und ich überlege mir, wie du deine Sachen abholen kannst, ohne dass ich dabei bin. Wenn du deine Worte ernst meinst, wirst du nicht mehr mein Bruder sein, in dem Moment, wenn dein Fuß das Haus verlässt"

Ich fummel an dem Verschluss meiner Kette rum, bis ich sie endlich mit zitternden Händen öffne und auf den Tisch lege.

Milky Moore steht auf, nimmt die Kette widerwillig und sagt: "Ich weiß, dir tut es weh und mir auch, glaube mir."

Und dann geht er.

Was ist nur passiert?
Was habe ich getan?

Balsam für meine SeeleWhere stories live. Discover now