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Meine Mutter hatte zwei Fehlgeburten vor mir und hat mich immer als ihr Wunder bezeichnet. Sie hatte nur noch eine kleine Hoffnung, dass sie auf normalem Weg ein Baby austragen kann und plötzlich war sie schwanger. Dass sie sich ausgerechnet dann in der Schwangerschaft befunden hat, während ihr Freund sich im Krieg befindet, damit hat sie auch nicht gerechnet. Aber sie erzählte mir, dass sie das schon auf das Folgende bereit gemacht hat. Die Schwangerschaft verlief wieder nicht gut. Robin bekam Blutungen und die Sorge, dass sie mich verliert war jeden Tag sehr groß. Doch nach über 40 Wochen, kam ein gesundes Kind zur Welt und bekam den Namen des Vaters in seinem Gedenken.

Anscheinend war ich schon immer ein Kämpfer, der nie aufgibt und sich durchs Leben boxt. Schon bevor ich wirklich auf der Welt war, habe ich um mein Leben gekämpft.

Vielleicht liegt es in meine Natur zu überleben wie Unkraut; überall zu wachsen aber von niemandem gemocht. Aber ich wäre viel lieber eine wunderschöne blaue Orchidee, die nach einer kurzen bestimmten Zeit ihre Farbe verliert und abstirbt, doch gemocht und geliebt von jedem.

Meine Mutter nennt es ein Wunder, dass ich da bin.

Ich benenne es als viel Glück und Pech.

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Ein Buch, wo drin steht, in welcher Situation man sich wie fühlen muss, das hätte ich gern. Ich meine, wie darf ich mich jetzt fühlen? Wie soll ich mich verhalten? Aber würde meine Situation in diesem Buch verfasst sein? Der Stiefbruder, einziger Mensch, den man über alles liebt, verpufft sich aus deinem Leben und gleichzeitig kommt deine Mutter dahergelaufen nach jahrelangem Kontaktabbruch und dein einziger Wunsch, den du über Jahre hattest, wird wahr. Dabei ist da noch ein Typ, der deinen letzten Verstand raubt und du keine Ahnung hast, wie ihr jetzt zueinander steht.

Darf ich mich freuen, obwohl mir zum Weinen zumute ist?

Es ist so, als wäre ich in einem Dreieck gefangen. An einer Ecke ist meine Mutter, die mich mit offenen Armen empfängt. An der anderen Sebastian, der mich frech grinsend ansieht und dann Milky, der sich von mir abwendet und weint. In meiner Fantasie weint er, weil es mir noch mehr das Herz brechen würde, wenn es ihm selbst nicht weh tut, zu gehen.

Obwohl ich so voller Gedanken bin, bin ich auch so leer. Ich fühle mich leer und viel zu melancholisch, als dass es gut ist. Diese Gefühle will ich allemal nicht.

In meiner Melancholie gehe ich in mein Zimmer, öffne mein Fenster, um mich auf die Fensterbank zu setzen und raus zu schauen. Es würde auch mit geschlossenem Fenster funktionieren, aber die Geräusche von dem Autoverkehr und die frische Luft beruhigen mich. Jedenfalls ist das der Plan. Runter kommen und einen Moment durchatmen. Leichter gesagt, als dass es wirklich funktioniert. Meine Kehle bleibt noch immer eng verschnürt und der psychische Stress lässt mich innerlich verkrampft sein. Die Erkältung gibt mir den Rest. Regelrecht bin ich ausgelaugt von allem.

Langsam fängt es an zu dämmern.

Stundenlang habe ich mich mit meiner Mutter unterhalten und besprochen, wie es nun weitergeht. Geplant ist, dass sie für ein paar Tage nochmal nach Hause fährt, damit sie ihre Sachen packen kann und dann kommt sie zu mir. Der Weg zur Polizei wird folgen und die Scheidung wird eingereicht. Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten würde, dass ich keine Bedenken hätte. Natürlich zweifel ich, ob meine Mutter sich an unseren Plan hält oder doch wieder kneift. Doch klang sie zuversichtlich und wie eine starke Frau. Sie ist so, als wäre sie aus ihrem jahrelangen Winterschlaf aufgewacht. Ich möchte ihr vollkommen vertrauen und mich fallen lassen mit Zuversicht, dass sie mich auffängt. Doch Robin hat mich schon fallen lassen und ihre Entschuldigung war einfallslos und unkreativ. Vielleicht bin ich diejenige, die so paranoid ist, vielleicht zurecht, vielleicht nicht.

Die Sonne steht tief am Horizont.

Ist es nicht so, dass es im Auge eines Wirbelsturmes ruhig ist? In diesem Punkt ist es still und drum herum herrscht Höchstgeschwindigkeit. Ein wenig fühle ich mich so. Als wäre ich der Mittelpunkt und um mich herum dreht sich alles. Alles kommt auf mich zurück, das gefällt mir nicht. Seit wann bin ich der Mittelpunkt anderer Menschen und das nicht im positiven Sinne?

Milkys Worte verletzen mich zutiefst. Nach meiner Ansicht hat er vieles falsch dargestellt. Mir ist bewusst, dass ich eine anstrengende Person bin und dauernd nach Anerkennung und Liebe lechze. Doch geht es nicht die ganze Zeit um mich, im Gegenteil, mir ist es immer lieber, dass es nicht so ist. Ich will da sein für andere Menschen und man soll es wissen, aber ich möchte nicht der Mittelpunkt anderer Menschen sein. Was Milky für mich aufgegeben hat, verstehe ich auch nicht. Wir beide haben zusammen beschlossen, dass Köln unsere Heimat werden soll und wir hier ledig werden. Auf unendlich viele Partys habe ich ihn gehen lassen, obwohl mir immer unwohl dabei war. Alles habe ich ihn machen lassen und was mir missfiel, habe ich Totgeschwiegen, aus Angst dass er mich verlässt. Jetzt tut er es, obwohl ich nichts falsches getan habe und ich fühle mich schlecht. Fühlt auch er sich miserabel, oder ist er glücklich bei Hazel? Meine Antwort wäre nein, weil er ein Mann ist und die nicht so viel nachdenken wie wir Frauen. Aber er ist kein normaler Mann, er ist Milky. Milky Moore.

Die Sonne ist nun kaum noch zu sehen.

Milky war immer ein liebevoller und herzensguter Mensch. Ein Mensch den man sofort gerne hat und nicht mehr loslassen möchte. Mit ihm kann man herumalbern und ernste Gespräche führen, nächtelang bis zum Morgengrauen. Wenn man erst einmal einen Platz in seinem Herzen gefunden hat, so wird er loyal zu dir stehen und das bei jeder Sachangelegenheit. So ist mein Milky.

Meine Sorge ist, dass er weg ist. Wie ist das passiert? Wann ist das passiert und warum? War ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt, dass ich es nicht mitbekommen habe? Oder bin ich diejenige, die sich nicht weiterentwickelt hat und immer auf demselben Punkt bleibt?

Ich mag meinen kleinen Job und die verbundenen Menschen dazu. Es ist gesellig und schön zu sehen, wie Menschen sich eine Auszeit gönnen und dabei einen Kaffee trinken. Jeden Tag ist es eine gewisse Harmonie, die man nicht beschreiben kann, wenn man sie nicht miterlebt. Ja, es war einst mein Traum gewesen, Schriftstellerin zu werden. Das eigene Buch im Schrank zu haben und zu wissen, dass andere Menschen auch eins dort stehen haben neben anderen großen Autoren. Ja, das wäre auch schön. Aber nur ein Traum und oftmals ist es schöner zu träumen, als es zu erleben. Es wäre wirklich schön, aber meine Texte waren zu schlecht und ich nicht gut genug, um berühmt zu werden. In einer Parallelwelt bin ich vielleicht die 2. J.K.Rowling, doch hier bin ich einfach nur Liv. Unbekannt und unbedeutend.

Und ohne meinen Job wäre kein Sebastian in meinem Leben. Kein Mann der mich versteht und mich mag. Niemand, den ich mag und wertschätze. Es ist zu früh, um zu spekulieren und herbei zu rufen. Aber da ist dieser junge Mann, den ich mag und er mag mich. Reicht das nicht für den Moment? Es kribbelt und das ist schön. Er ist schön, wie er ist und er findet schön, wie ich bin. Reicht das nicht für den Moment?

Die Sonne ist untergegangen.

Köln erleuchtet in verschiedenen Farben. Die kleinen Sternen strahlen und ich sitze hier auf meiner Fensterbank. Still, klein, allein, bekümmert.

Was bringt es uns zu leben, wenn bald alles vorbei ist? Durchschnittlich 80 Jahre leben wir. Was bringt es uns? Wir sterben doch eh, weshalb dann diese Schmerzen tagein tagaus. Ist es das wert? Ich weiß es nicht. Die Frage lastet schwer auf meinen Schultern. Viel zu schwer.

Weil es das einzige ist, was mir einfällt, wähle ich seine Nummer.

Balsam für meine SeeleWhere stories live. Discover now