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Einzelkinder werden nie verstehen können, wie es ist, mit Geschwistern aufzuwachsen. Auch wenn sie jemanden haben, der vielleicht einem Bruder oder einer Schwester nah kommt. Es wird immer etwas Anderes sein. Wir können uns in einem Moment gegenseitig auf die Nerven gehen, streiten und hassen. Und am Ende des Tages, wenn wir zu Bett gehen? Wir lieben uns und ohne den anderen könnten wir nicht. Wir sprechen die gleiche Sprache, auch wenn wir mal nicht sprechen. Nur uns gegenseitig dürfen wir das Leben schwer machen und wehe jemand versucht meinem Bruder weh zu tun, der hat es mit mir zu tun. Niemand darf ihn verletzen und Freundinnen sind so oder so direkt unten durch. Bis sie mich für sich gewinnen.

Vor Geschwisterpaaren muss man sich in Acht nehmen, denn gemeinsam können sie Kriege gewinnen.

~~~

Milky und ich sitzen zusammen auf dem Sofa und schauen uns einen Film an, ohne ihn anzusehen. Um genau zu sein, hat mein Bruder den DVD- Player angeworfen und Harry Potter und der Gefangene von Askaban angemacht. Er weiß genau, dass es mein Liebling ist und will mich wohl so um Entschuldigung bitten. Und ich versuche so ruhig und dünn zu sein, um so unscheinbar wie möglich zu sein. Sich entschuldigen ist nichts, was ich gut kann, aber ich fühle mich ihm gegenüber verpflichtet. Ich habe sehr hässliche Dinge gesagt, die ich nicht so meinte und gleichzeitig doch. Aber am Ende tut es mir wahnsinnig leid. Wir haben auch nicht über unsere Eltern geredet, oder besser gesagt, wir haben noch gar nicht miteinander gesprochen. Kein Wort mehr gewechselt seit unserem Streit.

Milky starrt durch den Fernseher in eine ganz andere Welt. Er ist sehr vertieft in seinen Gedanken und das bereitet mir Sorgen. Zwar ist er oft nachdenklich, aber sonst teilt er seine Gedankengänge mit mir. Nicht dass er sich überlegt wirklich auszuziehen. Auch sonst wirkt er verändert, was mir noch weniger gefällt. Es ist so, als würde sich in seinem Leben so viel verändern und ich bekomme es nicht mit. Wer ist diese Person neben mir? Es kommt mir vor, als würde ich ihn nicht kennen, obwohl ich ihn kenne. Ich weiß so gut wie alles über ihn und gleichzeitig fühle ich mich so fern von ihm.

Langsam rutsche ich weiter zu ihm, sodass sich die Lücke zwischen uns verkleinert. Milky beobachtet weiterhin, wie Hermine und Ron nach Hogsmead gehen. Noch ein kleines Stück und dann hebe ich die Beine hoch und lege meinen Kopf auf seinen Bauch. Er erschrickt ein wenig, vorallem als ich meine kalten Finger an seine Seite lege, um sie erwärmen zu lassen. Es ist eigentlich warm, aber ich erfriere. Mein Körper hat zu viel Energie verbraucht und zu wenig zurückbekommen. Er ist völlig erschöpft.

Milky streicht mir gleichmäßig übers Haar und ich krieche noch mehr in ihn rein, als würde er mich so beschützen können.

"Wir werden das schon bewältigen, Liv. Du schläfst jetzt eine Runde, danach erzählst du mir was geschehen ist und danach wird die Welt schon anders aussehen. Das verspreche ich dir, so wie ich Milky Moore heiße.", flüstert er in mein Ohr und nimmt von hinten eine Decke, die er auf mich legt.

~

Ein wenig benommen öffne ich die Augen und bin verblüfft, weshalb ich auf jemandem liege, der sich auch noch bewegt. Nach und nach ordnet sich mein Gehirn, sodass mir wieder alles klar wird. Leider...

Ich setze mich auf und schaue meinen Bruder an, der auch ein wenig verschlafen aussieht.

"Tut mir leid", sagt er und streckt sich, dabei knacken seine Knochen ekelhaft.

Der Abspann des Filmes läuft, also so viel konnten wir nicht geschlafen haben.

"Keine Ahnung, was mit dir ist, aber ich bin immer noch hungrig und deine Torte würde mich nun aufheitern", grinst Milky mich mit seinem strahlendsten Lächeln an.

Am liebsten würde ich mich den ganzen Tag im Bett unter meine Decke verkriechen, aber dann würde ich dieses Strahlen nicht mehr sehen können. Nie wieder; doch ist es viel zu schön dafür.

"Ja dann", ich springe tatkräftig auf. "Schneide ich die Torte mal in zwei Stücke und hole uns noch etwas Limonade. In der Zeit machst du ähm Sachen, die Milkys halt tun oder so."

So schnell mich meine Beine tragen, begebe ich mich die Küche. Ich erschrecke, als ich die kleine aber feine Blutlache sehe und mache einen Kreis darum. Mir ist gerade nicht danach das aufzuwischen, dafür knurrt mein Magen zu sehr. Es ist immerhin schon später Mittag und meine letzte Mahlzeit ist schon lange zurück. Etwas anderes als eine Torte würde ich trotzdem vorziehen, denn sie hat viele Kalorien und Zucker. Plötzlich taucht Milky hinter mir auf mit einem Lappen, den er noch nass macht.

"Also, ich finde der Küchenboden ist echt dreckig, weil du ihn ja voll lange nicht mehr geschrubbt hast und ich bin mal so nett und schrubbe das.", meint Milky todernst.

Mir ist bewusst, was er vor hat. Die Sache kleiner reden, als sie ist und somit mich beruhigen. Dabei bin ich ruhig, wenn man von den tausend herum schwirrenden Gedanken absieht. Der größte und bedeutendste: Was zum Teufel soll ich nur tun?

Dennoch bin ich Milky dankbar für den Versuch, aber der Druck auf meiner Nase geht nicht verloren und der in meinem Kopf auch nicht.
Und als er noch anfängt zu singen ist mir die Herunterschraubung zu viel.

"Twix hat enorm viele Schulden, die er nicht abzahlen kann, weil er keinen Job hat und Robin auch nicht. Sie sind so Bankrott, sodass sie kurz vor der Obdachlosigkeit stehen und haben mich, beziehungsweise uns beide, gebeten, dass wir ihnen das Geld vorstrecken. Am Ende war es kein Bitten mehr und mein Gesicht spricht wohl Bände, womit er gedroht hat. Es geht nicht um ein paar Euros, sondern über 100.000 Euro und mir ist bewusst, dass wir das Geld definitiv nicht aufbringen können. Doch wir können sie doch nicht so hängen lassen. Ich meine, meine Mutter, du weißt wie ich mich ihr gegenüber verpflichtet fühle und meine Schuldgefühle. Trotzdem funktioniert das alles nicht und mein Kopf explodiert gleich", pruste ich so heraus ohne Punkt und Kommata.

Milky hält inne und starrt mich kniend an.

"Habe ich dich richtig verstanden!? 100 Riesen?", fragt er und ich nicke ihm zustimmend.

Um nicht nichtsnutzig herum zu stehen, lege ich die Torte auf zwei Teller und schütte Limonade in Gläser ein.

Milky hockt noch immer wie festgefroren auf dem Boden. Ihm ist wohl nun der Ernst der Lage bewusst geworden und ich wäre nicht ich, wenn ich es nicht noch ein wenig schlimmer machen würde.

"Sie kommen Morgen nochmal vorbei, um das Geld abzuholen und Milky...", ich schlucke" Ich möchte nicht nochmal von ihm geschlagen werden. Nie wieder in meinem Leben."

Endlich rührt sich der Schönling und sieht mich ernst an.

"Das wird er nicht. Definitiv nicht, da brauchst du keine Angst haben und dir Sorgen machen."

Er seufzt.

"Und jetzt besprechen wir, was du machen möchtest, denn wie ich dich kenne, kannst du nicht Nichts tun. Wobei wir in dieser Lage das wirklich nicht machen können. Aber wir schaffen das schon"

Ich möchte ihm Glauben schenken, doch jede Minute, die es weniger heute ist, werde ich pessimistischer bezüglich der Sache.

Der Sache...

Als wäre es nicht bedeutend, so als hätte mein Haustier ein Problem, was ich lösen muss. Nur das es hier nicht um ein Haustier geht.

Balsam für meine SeeleWhere stories live. Discover now