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Ich war schon immer ein eifersüchtiger und neidischer Mensch, aber nicht wegen Besitztümern. Mir war es egal, dass andere Menschen Markenklamotten tragen und ich nur abgenutzte Kleidung. Eher war ich neidisch, als zwei Freundinnen sich innig umarmten, kicherten und für einen Jungen schwärmten. Dass andere Liebe empfingen und ich nicht. Nie hatte ich das Gefühl, dass mein Zuhause mein Zuhause war. Dass ich geliebt wurde, oder überhaupt gemocht. Nur Milky gab mir ein Stück Zuhause, aber auch nicht immer war er da. Als er seine erste Freundin hatte, war ich wie Luft und vollkommen eifersüchtig. Es wurde mir etwas genommen, mein Hab und Gut, das einzige, was ich besaß.

Seitdem ist einer meiner größten Ängste, von meinem Bruder allein gelassen zu werden. Dass er mich verlässt, weil er jemand besseren getroffen hat.

~~~

Minutenlang starre ich schweigend das Mädchen an. Es ist so, als würde ich mich in einem Traum befinden. Einem Albtraum. Doch ähnelt das alles mehr einem Film.

Irgendwann finde ich dann auch meine Sprache wieder.

"Am besten kommst du erstmal rein", murmel ich.

Die Kleine schwebt an mir vorbei, was mich noch mehr an eine Elfe erinnert, und selbstsicher geht sie ins Wohnzimmer.

Ehrlich gesagt, bin ich zu fassungslos, um irgendwas zu sagen, auch wenn mir viele Fragen in den Sinn kommen. Man lernt immerhin nicht jeden Tag die Schwester des Stiefbruders kennen, von der man nichts wusste.

Hazel schaut sich neugierig um und ich greife zu meinem Handy. Schnell tippe ich die Nummer von Milky ein und warte darauf, dass er abhebt.

"Hey Schwesterherz, was ist los?", kommt es aus dem Lautsprecher.

Hysterisch lache ich auf.

"Nichts weiter, außer, dass deine richtige Schwester vor mir steht und mit dir reden möchte"

Kurze Stille, bis ein Auswurf von Flüchen sie bricht und er auflegt. Jungfrau Maria wäre jetzt in Ohnmacht gefallen, wenn sie das mit angehört hätte.

"Mir wäre es jetzt sehr recht, wenn du vorbei kommen würdest", sage ich monoton, obwohl es in der Leitung tutet.

Diese Situation ist nicht schlimm, versuche ich mir einzureden. Dein Bruder hat dir nur nichts von seiner Schwester erzählt, dich angelogen, was er an deinen Geburtstag unternimmt. Das ist nichts, es gibt schlimmeres.

"Milky ist unterwegs, denke ich mal"

Ich nicke zur Antwort.

"Bekommst du keinen Ärger von deinen Eltern, wenn du alleine unterwegs bist? Wie bist du denn überhaupt hergekommen?", setze ich zu meiner Ermittlung an.

"Als meine Eltern zur Arbeit gingen, bin ich aufgestanden und habe mir meinen Rucksack gepackt und bin zum Bahnhof gegangen. In den Zug eingestiegen und da mir Milky seine Adresse gesagt hat, war es ein Leichtes, hierher zu finden. Mein Plan ist, vor Feierabend meiner Eltern, Zuhause zu sein, damit sie nichts erfahren."

Es fällt mir schwer, die Ruhe zu bewahren und überhaupt stehen bleiben zu können. Sei mir nicht ein Tag, in Frieden zu leben, gegönnt?

"Ich bin Liv und Milkys Stiefschwester", stelle ich mich vor und ich muss nicht erwähnen, dass es ein komisches Gefühl ist.

Hazel legt den Kopf ein wenig schief und denkt nach. Ein lautes Magengrummeln ertönt. Augenblicklich wird die Elfe rot um die Nase.

"Meinen Proviant habe ich schon gegessen, als ich auf dem Weg zum Bahnhof war", gibt sie zu.

Auch wenn ich es nicht möchte, muss ich Lächeln und deute, mir in die Küche zu folgen.

"Sind wir verwandt?", fragt sie leichthin, während ich nach Brot suche.

"Nein, sind wir nicht. Milkys Vater Twix hat meine Mutter geheiratet, als wir noch Kinder waren."

Ich reiche ihr das Nutellabrot, das sie sofort nimmt und verschlingt. Darauf schmiere ich direkt das nächste.

"Weshalb hat Milky nichts von dir erzählt?"

Kurz halte ich inne und schließe die Augen. Die Worte schmerzen mir mehr, als sie sollten.

"Er hat mir von dir auch nichts erzählt", sage ich forsch.

Die letzte Scheibe Brot gebe ich ihr und um sie nicht ansehen zu müssen, mache ich den Abwasch der letzten Tage.

"Wie sind deine Eltern?", diese Frage muss ich ihr einfach stellen, auch wenn sie bescheuert ist.

"Sie sind toll. Mama gibt mir immer Schoki, wenn ich möchte, außer vor den Mahlzeiten. Manchmal färbt sie mir mein Essen blau. Dazu macht sie mir bessere Nutella Brote als du und Papa holt mich von meinen Freundinnen ab, damit ich nicht im Dunkeln nach Hause gehen muss"

Ihr Leben hätte meins sein können. Ich hätte die richtige Schwester von Milky sein können und sie, wäre ich und würden uns heute zum ersten Mal treffen. Dabei wäre ich das Kind, was wohlbehütet aufwächst und keine Schmerzen hat. Aber ich möchte nicht, dass sie mein Leid auf ihren Schultern trägt oder sonst wer. Dennoch bin ich neidisch und wütend. Unendlich wütend.

Für meine Gedanken hasse ich mich abgrundtief.

"Das freut mich"

Nur noch sind die Geräusche vom Spülen zu hören. Mir fällt nichts ein, worüber ich mich mit ihr unterhalten soll. Davon abgesehen, dass ich es nicht will. 

Es dauert nicht lange, bis sich die Haustür öffnet und Milky hereingeschneit kommt. Er ist schneller da, als wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich in Not bin...

"Was hast du dir dabei gedacht, alleine her zu kommen, ohne Mama Bescheid zu geben, wo du bist? Ich habe sie auf dem Weg hierher angerufen. Sie ist außer sich vor Wut und kommt sofort her.", schreit er.

Seine ernste und strenge Stimme ist mir allzu bekannt. Jedes Mal, wenn ich Mist gebaut hatte, kam sie zum Einsatz. Jahrelang habe ich geglaubt, ich wäre die einzige Person, die den Tadel über sich ergehen lassen muss.

"Es tut mir leid, nur du bist so schnell abgereist und ohne meine Frage beantwortet zu haben", meint Hazel.

Das ist mein Stichpunkt, um mich einzuklinken.

"Welche Frage?"

Milky sieht mich drohend an.

"Egal", sagt er, doch eine Sekunde später antwortet seine Schwester für ihn.

"Ich habe ihn gefragt, ob er zu uns zieht. Wir wohnen in Aachen seit Kurzem und ich möchte mehr mit ihm zu tun haben. Darauf hat er nicht geantwortet und meinte, dass er darüber nachdenkt."

Mir weicht die Luft aus der Lunge und um mich herum dreht sich alles. Deswegen hat er mir nichts erzählt, weil er umziehen wird und die Bombe erst später platzen lassen wollte. Damit ich keine Chance habe, ihn überreden zu können. Natürlich wird er nach Aachen ziehen, dort wohnt seine richtige Familie und es ist einige Kilometer weit weg von mir. Er zieht sie vor und das ist in Ordnung, denn ich war immer und bin nur sein nerviges Anhängsel gewesen.

"Ich gehe in mein Zimmer", murmel ich und verschwinde so schnell, wie ich kann und schließe meine Tür hinter mir ab.

Noch bevor ich in meinem Bett liege, kullern mir die ersten Tränen die Wange herunter.

Balsam für meine SeeleWhere stories live. Discover now