Kapitel 12

2.4K 55 2
                                    

Ich drehe mich noch einmal im Bett herum und öffne die Augen. Schließe sie aber sofort wieder, als ich von der einfallenden Sonne geblendet werde. Ich ziehe mir die kuschelige Decke über den Kopf. Mein Kopf dröhnt ein wenig, aber der Kater hält sich ansonsten in Grenzen. Ich habe gestern bewusst nicht übertrieben, denn es gibt nichts Unangenehmeres als mit Restalkohol in einem vollen Zug zu sitzen. Ich sehe kurz auf die Uhr, in vier Stunden geht mein Zug. Langsam quäle ich mich aus dem gemütlichen Bett und stelle mich unter die heiße Dusche. Der Abend gestern war wirklich schön, vor allem das Gespräch mit Wincent. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich kaum etwas über ihn weiß. Wir haben uns so instinktiv verstanden, dass wir den normalen Smalltalk einfach übersprungen haben. Naja, so schnell werde ich ihm sowieso nicht mehr begegnen, denke ich mir und eine kleine Enttäuschung macht sich ganz vorsichtig in meinem Bauch breit. Doch bevor ich das so richtig bemerke, schieben sich schon wieder andere Gedanken in mein Bewusstsein. Die Freude auf das Familienessen heute Abend und auf das üppige Frühstücksbuffet, das im Speisesaal auf mich wartet. Schnell mache ich mich fertig und packe schon mal das Gröbste in den kleinen Koffer, der aufgeklappt vor dem Fenster steht.

Dann sehe ich einen schwarzen Hoodie auf dem Stuhl liegen. Das weiße Nike Zeichen springt mir ins Auge. Das ist nicht meiner, überlege ich. Dann fällt es mir wieder ein. Daniel und Franzi hatten darauf bestanden, dass mich Daniels Freunde nach der Party zum Hotel begleiten, da es in der selben Richtung lag. Franzi ist einfach zu fürsorglich, denke ich lächelnd. Einer meiner Begleiter hatte mir auf dem Weg seinen Pulli überlassen, da ich die Oktobertemperaturen doch unterschätzt hatte und es unter meiner Lederjacke ziemlich schnell kühl wurde. Ich schreibe Franzi eine Nachricht, dass ich den Hoodie an der Rezeption hinterlegen würde und sie oder er ihn sich dann die nächsten Tage abholen könnten.

Ich futterte mich durch das komplette Buffet, Rührei, Schokocroissants, Lachs, Obst und Tomate Mozzarella. Jetzt stehe ich am Bahnsteig mit einem heißen Kaffee in der Hand und fühle mich wieder fit. Der Zug fährt ein und fünf Stunden später sitze ich auch schon bei meinem Bruder im Auto. Als wir das Haus betreten riecht es fantastisch. Meine Mutter hat sich selbst übertroffen und ein fabelhaftes Kartoffelgratin gemacht und zum Nachtisch gibt es Applecrumble. Satt und zufrieden sitzen wir alle am Tisch und ich berichte von den beiden Jobangeboten die mir zur Auswahl stehen. Fynn ist tatsächlich etwas traurig, dass ich nun wirklich ausziehen werde, auch wenn ich noch nicht weiß wohin. „So kenn ich dich ja gar nicht" sage ich lachend und drücke meinen kleinen Bruder an mich. Wobei klein seit einigen Jahren auch nicht mehr zu trifft, da er mich mit seinen 1,90m um gute 25 cm überragt. „Ach ich werds einfach vermissen dich jeden Tag zusehen und vor allem habe ich dann niemanden mehr, den ich so richtig nerven kann." „Dafür hast du doch immer noch Mama und Papa. Und außerdem kannst du mich natürlich jederzeit besuchen kommen!"

„Hast du dich denn schon für eine Stadt entschieden?" will mein Vater wissen. „Nein nicht wirklich, am liebsten würde ich einfach den Zufall entscheiden lassen" scherze ich. Doch da holt mein Bruder schon eine Münze hervor und meint, Kopf bedeutet Ostsee und Zahl bedeutet Berge. 
Ich nehme ihm die Münze ab und drehe sie langsam zwischen meinen Fingern. Ja, warum eigentlich nicht? Warum soll der Zufall schlechtere Entscheidungen treffen können als ich? Dann kann ich, falls alles schiefläuft zumindest sagen, die Münze war schuld. Ich werfe sie hoch und sie dreht sich mehrfach in der Luft. Sie kommt auf dem Tisch auf, dreht sich noch ein wenig. Dann bleibt sie liegen.

Kopf


Wir hatten doch Pläne | wincent weissWhere stories live. Discover now