33. Kapitel

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Sofia Sayer, geboren 03.01.2011, gestorben 13.06.2020. Ruhuna al-fatiha.

Steht auf ihrem Grabstein an ihrem kleinen Grab. Mehrmals haften meine Augen und lesen die Schrift, denn es ist immernoch schwer zu glauben für mich. Sie ist fort und hat einige zerbrochene Herzen zurückgelassen. Darunter auch meins. Ich hatte viel zu wenig von ihr. Genau als ich sie als meine Schwester kennenlernen durfte und sie in mein Leben einen wichtigen Platz eingenommen hat, war sie wieder weg. Ich war in ihrer schwierigen Lage nur als ihre Ärztin für sie da. Ich hätte viel öfter bei ihr sein müssen sobald ich erfahren habe, dass sie meine Halbschwester ist. Sie hat mich gebraucht. Nicht nur als ihre Ärztin sondern als ihre Schwester. Vielleicht hätte sie es dann sogar überlebt und wäre noch bei mir. Ich hätte ihren Duft weiter in mich hineinziehen können. Ständig mache ich mir Vorwürfe. Ich habe meine kleine Schwester im Stich gelassen...
Dieser Gedanke macht mich so fertig. Ich hatte eine große Auswirkung auf Sofia. Mein Dasein, meine ermutigenden motivierenden Worte haben sie wirklich jedesmal gestärkt und ihr Mut gemacht. Weiter zu kämpfen und zu überleben. Es hat bis vor kurzem auch ihre Lebenserwartung verlängert und sogar qualitativ verbessert. Nur die Betonung liegt bei ‚bis vor kurzem'. Wir hatten von Anfang an schon eine besondere Beziehung zueinander. Scheinbar hat das Blut angezogen. Jetzt wo ich alles weiß ist es zu spät, denn Sofia ist nicht mehr bei mir.

Ich umklammere die Erde ganz fest auf ihrem Grab, auf dem ich fast schon liege. Es ist so als würde ich darauf warten, dass sie unter der Erde ebenfalls ihre kleinen Arme fest um mich schlingt. Doch sofort macht sich Enttäuschung in mir breit als mir klar wird, dass so etwas nie wieder möglich ist.
Plötzlich spüre ich kleine Tröpfchen auf meinen Händen, die immer mehr werden. Sie werden so viele, dass sogar schon die Erde langsam Nässe einnimmt. Doch mich interessiert das nicht, ich rühre mich weiterhin nicht von meinem Fleck und liege immernoch auf der Erde unter der meine kleine Schwester neu begraben wurde.

„Sahra abla, es regnet. Lass uns gehen, du wirst noch krank!", nehme ich öyküs stimme gedämpft wahr und spüre gleich darauf ihre weiche Hand an meiner Schulter. Doch ich ignoriere sie und drücke meine Hände noch mehr in die mittlerweile durchnässte Erde.

„ja Yenge, öykü hat recht. Lass uns wenigstens ins Auto bis der Regen aufhört!", schlägt Azad zurückhaltend vor.

Wir sind mittlerweile die einzigen am Friedhof. Mein Vater und Sofias Mutter mussten nach der Beerdigung zurück nachhause, weil einige Personen in deren Wohnung sein werden, um gemeinsam zu trauern und zu beten. Ich habe mich entschieden noch bei Sofia zu bleiben und das alleine. Der Regen hindert mich auch nicht daran. Aus diesem Grund blende ich die beiden Personen hinter mir gekonnt aus und bin mit der Seele bei Sofia. Die beiden wagen es auch nicht weiter auf mich einzureden. Somit herrscht kurz eine Stille. Stumm und völlig mit den Nerven am Ende streiche ich immer wieder über die nasse Erde um ihr das Gefühl von Wärme zukommen zu lassen - falls es überhaupt möglich ist. Der Regen hat mich mittlerweile komplett durchnässt und ich spüre den kalten Wind durch meine nassen Klamotten durchdringen und an meine Haut klatschen. Wenn ich daran denke, dass Sofia bei diesem Wetter kalt sein könnte, spüre ich einen wahnsinnigen Stich im Herzen. Ihr kleiner, schlanker Körper könnte erfrieren und ich kann sie nicht aufwärmen so sehr ich es auch wollte...

Plötzlich spüre ich wieder eine Hand - diesmal aber eine große Hand - auf meiner Schulter. Dadurch, dass mein nasser Pullover dabei auf meine nackte Haut aufkommt, muss ich kurz aufzucken. Aber auch das interessiert mich nicht weiter.

„Sahra, lass uns gehen!", höre ich aufeinmal seine raue Stimme auf mich einreden.

„Ömer, denkst du ihr ist kalt?", frage ich unbeteiligt jedoch besorgt um sie. Dabei sehe ich permanent auf eine Stelle ihres Grabes. Das erste mal mache ich nach einer langen Zeit mein Mund auf. Davor habe ich nur geschwiegen.

ÖMRAWhere stories live. Discover now