11. Die unterdrückte Klasse

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Ich schüttelte den Kopf. Das hatte ich nicht gewusst. Aber es machte Sinn. Deswegen kam Kalle auch mit seiner Unschuldsmiene durch.

Jonathan lehnte sich an die verglaste Wand hinter ihm.
,,Wollen wir uns nicht setzen?", fragte er.

Ich nickte und hob seine Krücken auf.
Er humpelte zur Bank, am Rand des Gangs und setzte sich. Ich setzte mich neben ihn.
Eigentlich musste ich längst zurück in den Unterricht und unter normalen Umständen hätte ich ihn nie freiwillig verpasst und stattdessen mit einem Jungem geredet, den ich und der auch mich überhaupt nicht leiden konnte.
Aber es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass es keinesweg normale Umstände waren.

Seelenruhig lehnte Jonathan die beiden Krücken gegen die Bank, so dass sie nicht umkippten.

,,Darfst du überhaupt auf Krücken laufen?", fragte ich.
Jonathan lehnte sich zurück.
,,In begrenztem Maße. Das heißt vom Klassenzimmer bis zur Toilette und zum Aufzug. Da holt mich meine Mutter dann ab.
Eigentlich sollte ich noch im Rollstuhl rumfahren, aber ich habe dazu keine Geduld. Und Glück, dass mein Bein so gut heilt. Die Ärzte hatten mir da ja nicht viel Hoffnung gemacht", lachte er.

Ich sah auf den Gips um sein rechtes Bein.

,,Was ist jetzt mit Kalle?", fragte Jonathan mit einem Blick auf mein Gesicht.

,,Er...fasst mich an", sagte ich und sah zu Boden.
Mein Gesicht färbte sich rot wie Rote Beete.

Jonathan drehte den Kopf zu mir.
,,Du meinst, er belästigt dich? Das musst du einem Lehrer melden!"

Ich nickte. ,,Das hab ich getan. Und Herr Karlsen hat uns daraufhin zusammengesetzt, damit wir uns besser verstehen."

Jonathan murmelte etwas, dass ich nicht verstehen konnte.
,,Du kannst immernoch zu uns zurückkommen, Liz. Die zwei Wochen Probe sind noch nicht um."

Ich schüttelte den Kopf.
,,In der Klasse hassen mich alle."

Jonathan betrachtete seine Nägel. ,,Das hast du dir aber selbst zuzuschreiben."

Schulterzuckend sah ich nach vorne zur Treppe.

,,Immerhin gibt es in unserer Klasse keine Hierarchie", wandte Jonathan ein.
,,Wie meinst du das?"

,,In der 11a gibt es 15 Schüler mit dir. Da steht Kalle ganz oben. Direkt unter ihm vier Kumpels.
Einer von ihnen ist seit letztem Jahr Ready aus dem Eishockeyteam.
Dann kommen die Restlichen, die ihn respektieren und ganz unten, die ihn nicht respektieren. Aber die haben es sehr schwer.
Kalle macht das schon immer so. Nur hat er es dieses Jahr noch leichter, da Herr Karlsen der Klassenlehrer ist. "

,,Aber was nützt ihm das?"

Jonathan zuckte die Schultern. ,,Er hält die Klasse ruhig. Alle lernen und schreiben Bestnoten.
Das bringt ihnen den besten Ruf der Schule, auf den jeder Lehrer hereinfällt.
Glaubst du wirklich, dass eine Klasse mit verschiedensten Schülern ohne Zwang so ruhig sein könnte?"

Ich schüttelte den Kopf und erinnerte mich daran, wie Jeremy Marianne behandelt hatte.

,,Woher weißt du das alles?"

,,Nana", sagte Jonathan leise. ,,Und glaub nicht, dass du die Einzige bist, die je hochgestuft worden ist."

Erstaunt sah ich Jonathan an.
,,Du auch?"
Jonathan nickte.
,,Es ist schon ein bisschen her. Ich hab die zwei Probewochen abgebrochen."

Ich konnte nicht glauben, dass Jonathans Noten dazu gut genug waren, aber verkniff mir einmal den Kommentar. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass er mal gefehlt hatte.

,,Aber warum macht er das mit mir?"
Jonathan zuckte die Schultern. ,,Du bist neu und entsprichst seinem Ideal. Und hässlich bist du auch nicht."

Das war das dritte Mal in wenigen Tagen, dass ich das hörte. Ich hatte nie auf mein Aussehen geachtet und plötzlich schien es allen aufzufallen.

,,Marian...Nana schien sehr darunter zu leiden. Und Nada hat nichts getan, als Ready sie fertig gemacht hat."

,,Du klingst wie jemand aus dem Eishockeyteam", stellte er fest.
Ich ignorierte ihn.
,,Nada hat die Hoffnungen auch bald zum engen Kreis mit Ready zu gehören, deshalb hält er sich an alles.
Und ich vermute, dass du ja auch nichts getan hast."

Mein Blick wanderte zum Boden.
,,War ja nicht meine Angelegenheit."
Wusste Jonathan gar nicht, dass ich nun Teil des Eishockeyteams war?

,,Wie immer. Du solltest aufhören, immer nur an dich zu denken, Liz."
Zum ersten Mal sagte er das nicht vorwurfsvoll, sondern einfach ernst.

,,Wie auch immer. Was machst du jetzt? Heute ist der letzte Tag, an dem du die Klasse noch frei wieder verlassen kannst."

Ich zog die Beine auf die Bank an meinen Körper.
,,Ich weiß es nicht."
Kalle hatte recht. Mein Stolz würde mich davon abhalten, in meine alte Klasse zurückzukehren.

Das war also keine Option.
Die andere Möglichkeit war mit Kalle klarzukommen, irgendwann mit ihm blendend zu verstehen und nichts mehr allein zu bestimmen. Allein bei dem Gedanken kam mir alles hoch.

Oder ich wehrte mich.
Nicht alleine. Das war zwar sonst nicht meine Art, aber vielleicht war es die einzige Möglichkeit.

,,Ich bleibe", sagte ich. ,,Welche von den Schülern in der Klasse sind nicht auf Kalles Seite?"

Jonathans Augen blinzelte belustigt. ,,Das hast du nicht vor."

Ich nickte. ,,Vielleicht schon. Dann kann ich wenigstens in Ruhe lernen ohne von Kalle begrabscht zu werden!"

,,Es sind aber nicht viele Schüler.
Zwei Mädchen und zwei Jungen. Frederik, Katrin, Leni und Leon. Die anderen stehen mehr oder weniger freiwillig auf Kalles Seite."

Es klingelte zur Pause.
Ich sprang auf. ,,Ich muss zurück."
Jonathan nickte. ,,Viel Glück. Wenn du Probleme hast, dann komm nochmal zu mir. Vielleicht kann ich dir noch helfen."
Träum weiter, rief mein Kopf, aber ich hielt ausnahmsweise den Mund.

Ich lief zurück zum Klassenzimmer der 11a.
Kalle erwartete mich schon. Er reichte mir mein Mathebuch.
,,Das hast du auf dem Tisch vergessen."

In der nächsten Stunde saßen wir zum Glück nicht nebeneinander.

Die Klasse war wirklich schön ruhig.
War es das wirklich wert aufzugeben?
Als Kalle sich zu mir nach hinten beugte und dabei wie zufällig meinen Oberschenkel streifte, entschied ich, dass die Antwort ja war.

Diese Klasse war es sowieso nicht anders gewöhnt. So laut würden sie nicht werden.
Bei dem Gedanken, mich von Kalle regieren und kontrollieren zu lassen, wurde mir regelrecht speiübel.

Als ich am Nachmittag nach Hause kam, fiel es mir schon wieder schwer zu glauben, dass ich dem Kotzbrocken Jonathan einfach so mein Herz ausgeschüttet hatte.

Bestimmt wusste es mittlerweile die ganze Klasse.
Ich legte mich aufs Bett und starrte die Decke an.
Wie dumm war ich eigentlich?
Meine ganze alte Klasse machte sich inzwischen wahrscheinlich schon lustig über mich.

Hoffentlich musste ich ihnen nie wieder begegnen.
Und hoffentlich wurde ich Kalle los.

Dieser Kerl war widerlich. Versteckte sich hinter seinem Lernen und tat wie ein Unschuldslamm. Und sein Vater stand natürlich auf seiner Seite.

Das war unfair gegenüber allen Schülern.
Nicht dass es mich interessiert hätte, aber ich wollte auch wieder meine Ruhe. Die letzten beiden Tage hatten mir schon gereicht.

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Fünf im KopfWhere stories live. Discover now