22. Psychotherapeutin Pami

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,,Wow, wohnst du hier ganz alleine?", fragte Pami mit großen Augen, während ich ein Tuch befeuchtete, um ihr Knie sauber zu machen.

Sie saß auf einem Stuhl mitten in der Küche, wackelte mit den Beinen und sah sich neugierig um.

,,Nein, meine Mutter wohnt auch noch hier."
Auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlt, fügte ich in Gedanken hinzu.

,,Aber sonst hast du niemanden? Keine Haustiere oder Geschwister?"

Ich schüttelte den Kopf.

Pami stieß zischend Luft aus und hörte für einen Moment auf zu reden, als ich ihre Schürfwunde reinigte.
,,Selbst schuld."

Pami grinste.
,,Das sagt meine Mama auch immer. Aber das tut ja gleich nicht mehr weh."
Pami hörte sich an, als würde sie aus Erfahrung sprechen und ihre vernarbten Knie sahen auch so aus.

Ich klebte ein Pflaster auf ihr Knie und trat zurück. Aber Pami blieb trotzdem sitzen und sah mich nachdenklich an.
,,Was ist?", wollte ich wissen.

,,Hasst du Jonathan?", fragte sie unverblümt.
Überrumpelt sah ich sie an.
,,Ich...nein...ja."
Ich atmete aus.
,,Ich weiß es nicht."

,,Wieso kommst du dann nicht noch mal vorbei?"
Ich zuckte die Schultern.
,,Ich glaube nicht, dass Jonathan das wollen würde."
Pami sah mich schief an.

,,Aber er sieht in letzter Zeit nicht besonders glücklich aus."
Natürlich nicht. Sein genialer Plan, mich von Grund auf zu verändern, war ja auch gescheitert.
Aber das konnte ich Pami so nicht sagen.

,,Jonathan hat etwas getan, was mich verletzt hat und ich möchte ihn gerade nicht sehen."
Pami seufzte.
,,In Ordnung."
Sie rutschte von Stuhl und wäre fast weggeknickt, als sie ihr Knie belasten wollte.

Sie verzog das Gesicht und humpelte zur Tür. Fast wäre sie hingefallen.
,,Ich geh dann nach Hause."

An der Türschwelle wäre sie beinahe wieder gestürzt.
Ich seufzte.
,,Wie willst du denn so nach Hause kommen?"

Pami zuckte die Schultern. ,,Krieg ich schon hin."
Sie machte einen Schritt und bevor sie fallen konnte, hielt ich sie am Arm fest.

,,Ich begleite dich. Aber nur bis zu deiner Haustür. Mit rein komm ich nicht."

Pami schüttelte den Kopf.
,,Pah, ich komm schon allein nach Hause."
Sie fiel der Länge nach auf den Asphalt.
,,Ich sehe es", meinte ich und kniete mich neben sie.

,,Gut dann begleite mich eben."

Pami humpelte in einem Schneckentempo neben mir her. So wären wir nicht einmal in zwei Stunden da.
Ich hielt an einer Bank an und wies Pami an, hinaufzusteigen.

,,Komm auf meinen Rücken."
Pami legte ihre Arme um meinen Hals und zog sich hoch. Ihre Beine schlang sie um meine Hüfte und ich hielt sie.
Zum Glück war Pami genau wie ihr großer Bruder schlank gebaut. Trotzdem war sie schwer.

Ich hatte noch nie zuvor ein Kind huckepack getragen und Pami war vielleicht nicht das beste Exemplar für Anfänger.
Neben meinem rechten Ohr hörte ich es nun dauerhaft reden.

Pami erzählte von ihrem Schultag, einem Klassenkameraden, der sie immer ärgerte, ihrer guten Note in Sport und dass sie mal Psychotherapeutin werden wollte, bis wir da waren.
Das mit der Psychotherapeutin war neu, das hatte sie sich vermutlich vom letzten Mal gemerkt.

Als ich sie an der Haustür absetzen wollte, war sie jedoch schneller. Sie beugte sich vor und klingelte und als sich die Tür öffnete, ließ sie sich von meinem Rücken gleiten, winkte, verschwand ins Innere des Hauses, als wäre sie nie verletzt gewesen und ließ mich stehen.
Von Angesicht zu Angesicht mit Jonathan, der mindestens genauso überrumpelt dastand.

Was für ein raffiniertes kleines Biest.

Ich und Jonathan standen einige Momente nur da, dann räusperte er sich.
,,Hallo."

Kein Liz. Kein Lizzy. Einfach nur hallo.

,,Hallo."

Ich bemerkte, dass er keinen Gips mehr trug, sondern nur noch eine Art Schiene. Die Krücken hatte er noch.

Wieder entstand ein peinliches Schweigen.
Dann nahm Jonathan sich die Jacke hinter ihm vom Haken und schlüpfte hinein, während er mit den Krücken kämpfte.
Er griff nach hinten auf die Kommode und steckte einen Umschlag ein.

,,Ich muss das noch zur Post bringen. Hast du was dagegen, wenn ich dich ein Stück begleite?"

Ich zuckte die Schultern.
Ich wusste nicht, warum ich nicht abwehrte oder ohne ihn loslief. Er hatte mich verraten. Aber vielleicht hatte ich es verdient.

Nebeneinander liefen wir die Straße entlang und schwiegen.

Neben dem Briefkasten blieben wir stehen. Jonathan zog den Brief aus seiner Tasche und warf ihn ein.
Einen Moment standen wir wieder nur da, dann setzte sich Jonathan auf die Mauer, auf der wir damals gesessen hatten, als es in Strömen geregnet hatte, und ich setzte mich neben ihn.

Der einzige Unterschied war, dass ich heute links saß und er rechts. Und dass es April war, dunkel und einiges passiert war.

Ich fröstelte. Langsam wurde es kalt.
Jonathan lehnte die Krücken an die Mauer.
Wir beide blickten nach vorne auf die leere Straße.

,,Danke für den Kuchen", sagte ich nach einer Weile in die Stille.

,,Bitte. Pami wollte unbedingt welchen vorbeibringen."
,,Da hat sie mir aber was anderes erzählt."

Jonathan sah zu mir und grinste.
,,Tja, so sind kleine Mädchen. Immer beschweren sie sich über Zeug."
Er zwinkerte mir zu.

Ich drehte den Kopf weg.
,,Werd mal erwachsen", murmelte ich.

,,Manchmal ist es schöner kindisch zu sein", lachte Jonathan leise ins Dunkel.
,,Es hat doch was, sorgenlos auf den nächsten Tag zu warten."

Ich schüttelte den Kopf.
,,Wie alt bist du?"
Die Frage war rhetorisch gewesen, aber Jonathan grinste mich mit seinem Jonathan-Lächeln an. ,,Fünf."

Ich drehte den Kopf weg.
Lange schwiegen wir wieder, bis ich plötzlich eine Berührung an meinen Schultern spürte. Ich zuckte zusammen.
Jonathan hatte mir seine Jacke umgelegt.

,,Du frierst doch", sagte er.
,,Was ist mit dir?"
,,Seit wann machst du dir Sorgen um andere?"

Ich schlüpfte in die Jackenärmel. Die Jacke war schön warm.
Mein Herz schien ein wenig schneller zu schlagen als sonst, als ich die Hände in die Taschen steckte und mir Jonathans Geruch in die Nase stieg. Die Luft nach einem Gewitter.
Ich wurde rot.
Was war das denn? Warum fühlte ich mich plötzlich so nervös?

Jonathan sah nach oben und als ich die Knie an mich zog und auch aufschaute, sah auch ich den wunderschönen Sternenhimmel.

Fünf im KopfWhere stories live. Discover now