33. Auf der roten Station

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Tatsächlich machte jetzt vieles Sinn.
Warum Kalle so ein krankhaftes Interesse an mir hatte und so extrem auf Jonathan reagiert hatte, warum Dean so viele Leute kannten und er so großen Einfluss auf den Direktor hatte, warum Jonathan sich an ihn gewendet hatte, als der Klassentag vorgezogen wurde und warum er Jeremy damals ermahnt hatte, dass er hier nicht in seiner Klasse sei.

Vermutlich war der Direktor Dean zu großem Dank verpflichtet gewesen.
Wer wohl die Tochter der Direktors war?
Ob ich sie kannte? Ging sie überhaupt noch auf unsere Schule?
Wenn sie mir ähnlich sah, hätte ich sie dann nicht bemerkt? Oder war diese Ähnlichkeit schon lange her?
Eigentlich war es ja auch egal.

Ich rutschte vom Bett und lief zum zweiten Mal zu Tür.
Dieses Mal wurde ich allerdings von der Schwester aufgehalten, die das Mittagessen brachte.
Kaum war sie wieder draußen, ließ ich das Essen liegen und lief wieder auf den Gang.

Auf der Suche nach einer Art Plan umrundete ich meine Station mehrmals, bevor ich die Karte an der Wand bemerkte.

Konzentriert versuchte ich mir den Weg einzuprägen.
Ironischerweise lag die rote Station gar nicht weit weg. Ich musste gestern laut dem Plan fast eine halbe Stunde lang im Kreis über die gelbe und blaue Station gelaufen sein.

Als ich mich umdrehte, um mich auf den Weg zu machen, bemerkte ich eine erstaunte Leni.
,,Hallo Elizabeth, wie gehts dir?"

,,Ganz gut. Was machst du hier?"
,,Ich besuche den Schwachkopf, der gestern versucht hat, MICH zu beschützen. Als ob ich mich nicht wehren könnte."
,,Frederik?"
Sie nickte.
,,Wie geht es ihm?"

Leni winkte ab. ,,Schon wieder viel zu gut. Spätestens morgen ist er hier raus. Aber wie geht es Jonathan?", fragte sie besorgt.

,,Er liegt noch im künstlichen Koma, soweit ich weiß."
Leni seufzte. ,,Das hätte höchtens Kalle verdient. Dem bin ich heute auch schon über den Weg gelaufen. Unsere ganze Klasse ist gefühlt hier. Warst es übrigens wirklich du, die ihm die Nase gebrochen hat?"

Ich hielt meine verbundene Hand hoch.
,,Cool!", lachte Leni. ,,Er muss jetzt so eine komische Schiene auf der Nase tragen!"

Ich musste lächeln, als ich mir das vorstellte.
,,Ich hab gehört, du hast die Typen mit den Baseballschlägern ordentlich fertig gemacht."
Leni grinste. ,,Auf jeden. Aber was Nana am Ende gebracht hat, war noch tausendmal mutiger."

,,Ich hab davon gehört. Wie geht es ihr?"
,,Soweit gar nicht schlecht, sie wurde noch gestern operiert. Beim Aufprall des Schlägers hat sie sich anscheinend den linken Unteram gebrochen.
Zum Glück war der Bruch nur leicht verschoben und nicht gesplittert, weil Leon so schnell wie möglich reagiert hat."

Ich nickte. ,,Wer waren eigenlich die Typen, die dazu kamen? Kanntest du die?"

Leni schüttelte den Kopf.
,,Ne, aber Frederik. Er meinte, Kalle hätte noch was gut bei denen oder so. Aber bei dem könnte ich mir vorstellen, dass er sie auch einfach mit irgendwas erpresst hat."

Sie fuhr sich durch die roten Haare und zeigte in Richtung Ende des Ganges.
,,Also, ich muss dann. Frederik wollte, dass ich nochmal komme, wenn ich bei Nana war."

,,Ich muss auch weiter."

In Richtung der roten Station lagen nur zwei Stockwerke Höhenunterschied und ein paar Kurven.

Schnell war ich dort, musste aber eine Weile suchen, bis ich Schwester Gerta traf, die mir mittteilte, dass Herr Doktor Kristoph bald aus seiner Mittagspause kam.
Jetzt kannte ich auch den Namen des Arztes, der wenige Minuten später auftauchte und mich mit einem skeptischen Gesichtsausdruck ansah.

,,Gerta, seit wann dürfen bei uns auf der Station fremde Patienten ohne Orientierungssinn herumstehen?", rief er ins Schwesternzimmer hinter mir.

Ich verzog keine Miene, wie auch der Arzt zur Kenntnis nahm.
,,So unberührt wie eh und je, Miss Steinkalt? Was wollen wir denn hier?"

Ich seufzte und entspannte mein Gesicht.
,,Ich möchte zu Jonathan."
,,Das geht nicht, der Herr liegt noch im Koma auf der Intensivstation, auf die bekanntlich nur Angehörige dürfen. Außerdem stellt sich mir die dringende Frage, seit wann Sie sich für sein Wohl interessieren."

,,Als er das erste Mal hier war, durfte ich auch zu ihm und ihm sogar Aufgaben bringen."
,,Das war mit seiner ausdrücklichen und WACHEN Erlaubnis."
,,Sie waren auch in den Plan eingeweiht", stellte ich resigniert fest.
Der Arzt schmunzelte.
,,Sie haben es herausgefunden? Das hat Sie aber wirklich Zeit gekostet. Sie sollen doch so ein schlaues Mädchen sein."

,,Kann ich nun zu ihm?", versuchte ich wieder auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen.
,,Nein, außer Sie sind plötzlich eine Angehörige."

Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder und sah den Arzt dann entschlossen an.
,,Ich bin seine Freundin!"

,,Ach, sind Sie nun doch?"

Ich konnte an seinem Gesichtausdruck sehen, dass er mir kein Wort glaubte.
,,Na dann bring ich Sie mal zu ihrem Freund. Aber wehe ich höre später Beschwerden."

Er winkte Gerta zu sich. ,,Begleiten Sie diese junge Dame zu ihrem Freund."
Das Wort ,,Freund" betonte er besonders.
,,Aber stecken Sie ihm nicht gleich die Zunge in den Hals, die Wiederbelebung übernehmen sonst nämlich auch Sie."

Knurrend drehte ich mich mit hochrotem Gesicht um und lief Schwester Gerta hinterher.
Wie mir dieser Arzt doch immernoch zuwider war.

Dann war er auch noch zu faul mich selbst hinzubringen.

Schwester Gerta führte mich zur Intensivstation und die Intensivschwester brachte mich weiter, bis sie vor einer Tür stehen blieb. Hier musste ich Schutzkleidung anziehen.

Traurig und zögernd betrachtete ich Jonathan zum ersten Mal seit er fast verblutet neben mir auf dem Boden gelegen hatte.
Vorsichtig setzte ich mich neben sein Bett auf einen Stuhl.

Die ganzen Kabel und Maschinen zu betrachten, die ihn scheinbar am Leben hielten, machten mich noch trauriger. Jonathan war normalerweise eine so entusiastische und fröhliche Person

Ich spürte, wie Tränen mir in die Augen stiegen und meine Wangen hinunterliefen.
Was wenn er nicht mehr aufwachte? Dann war das meine Schuld! Ich hätte ihm früher helfen sollen, anstatt wie eingefroren dazustehen.

Nasse Tropfen tropften auf Jonathans Bettdecke, als ich plötzlich hörte, wie die Tür aufgerissen wurde.

Schnell fuhr ich herum.
In der Tür stand Jonathans Mutter.
Hektisch wischte ich mir die Tränen vom Gesicht, aber sie hatte sie längst gesehen.

Ihr Gesichtsausdruck war mindestens so erschrocken wie meiner. Aber sie schien sich zu entspannen, als sie sah, dass ich Jonathan scheinbar nichts tat.

Ungeschickt stand ich auf und wollte schnell den Raum verlassen, aber Jonathans Mutter legte mir im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter. 
,,Bleib ruhig noch ein wenig, Ich muss ohnehin noch meinem Mann anrufen und ihm sagen, dass er Pami von ihrer Freundin abholen soll."

Ich sah die Frau vor mir erstaunt an. Das musste sie viel Kraft gekostet haben.

,,Danke", flüsterte ich leise.

Fünf im KopfWhere stories live. Discover now