35. Held

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Am nächsten Tag saß ich nachmittags im Krankenhaus neben Jonathans Bett.
Seit heute war er frei von Narkosemedikamenten.
Aber es schien wohl immernoch ungewiss, ob er aufwachen würde.

,,Kalle ist von der Schule verwiesen worden, falls du es noch nicht mitbekommen hast", erzählte ich.
,,Es war aber knapp, fast hätte er sich wieder rausreden können."
Dann schwieg ich.

Fast hätte ich lachen können.
Es war beinahe, als würde es wie zum Ende einer Geschichte noch extra dramatisch werden.

Und ich konnte nur hoffen, dass es noch nicht das Ende war.
Jonathans Bein war nun fast heil, aber dafür war der Rest seines Körpers kaputt. Dank mir. Selbst wenn er aufwachen würde, würde er mir das wohl niemals verzeihen.

Ich sah auf den Verband um sein rechtes Handgelenk. Der war mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen. Vermutlich hatte er sich dort verletzt, als Kalle sich mit dem Tritt von ihm losgerissen hatte.

Ich streckte meine Hand nach seiner aus. Beide Hände waren verbunden.
Als ich mich nach vorne lehnte, stach mich etwas in den Bauch.
Ich griff unter die Schutzkleidung und zog einen schwarzen Stift aus der Tasche. Den hatte mir Lotta heute geliehen. Ich hatte wohl vergessen, ihn zurückzugeben.

Zögerlich betrachtete ich ihn. Dann zog ich die Kappe herunter und setzte den Stift an Jonathans Arm an. Auf Verband konnte man nicht gut schreiben, deshalb schob ich ihn am Arm etwas hoch.

Während ich schrieb, wurde ich immer trauriger. Was wenn das das Letzte war, was er von dieser Welt mitnahm?
Was wenn er das hier nicht überlebte?
Was würde ich sagen, wenn ich ihn mit dieser Schrift auf dem Arm auf seiner Beerdigung im Sarg liegend sehen würde?

Er hatte wieder von vorne anfangen wollen. Zusammen mit mir.
Seine Wort bevor Kalle dazukam, fielen mir wieder ein.
Er mochte mich. Er fand, dass ich kein schlechter Mensch war.

Ich bereute schon lange nicht mehr, dass ich damals mein Geld statt für Essen in gelbe Blumen investiert hatte, obwohl sie nicht besonders hübsch gewesen waren.

Ich wünschte, ich hätte öfter auf mein Herz gehört. Mit Tränen in Augen musste ich lächeln, als ich bemerkte, wie kitschig das klang.

Ich betrachtete Jonathans friedliches Gesicht und wünschte mir, ich könnte jetzt seine blauen Augen sehen. Meine Augen füllten sich mit Tränen.
Wann war ich so emotional geworden?
Jonathan hatte mich mitten ins Herz getroffen. Mit allem, was er tat und sagte.
Zumindest fühlte es sich nun so an, als wollte jemand all das herausreißen.

Alle Erinnerungen, alle Gedanken an ihn, alle Momente und Augenblicke.
Jonathan, der friedlich auf dem Tisch im Klassenzimmer schlief.
Jonathan, der mich vor dem Bus rettete.
Wie er mich mitten auf dem Gang umarmte, während seine Krücken auf dem Boden lagen.
Die Momente auf der Mauer, der Kuss, sein Lachen.
Seine glitzernden Augen.
,,Hey Lizzyliz", hörte ich seine Stimme in meinem Kopf.
Das reichte mir.

Mein Herz fühlte sich an, als wäre es in Stücke zerschlagen.
Vor ein paar Monaten hatte ich nicht einmal gewusst, dass man so etwas fühlen konnte.
Jonathans kindsköpfige Art hatte mich fröhlich gemacht und ich hatte das nie verstanden.

Ich schluchzte auf, als ich meine Hand von seinem Arm nahm und meine Schrift ansah.

,,Das ist dafür, dass ich damals die Karte nicht unterschrieben habe", flüsterte ich unter Tränen.

Ein letztes Mal strich ich über seine Hand. Ich musste langsam los. Es wurde spät und meine Mutter hatte gewollt, dass wir heute zusammen zu Abend aßen.

Gerade als ich aufstehen wollte, spürte ich einen leichten Druck an meinen Fingern und drehte mich erstaunt zu Jonathan.
Seine verbundene Hand umschloss meine.

,,Das kommt aber reichlich spät", hörte ich ihn leise murmeln.
Seine blauen Augen öffneten sich einen Spalt.
,,Ich weiß." Mein Stimme brach.

Die Tränen kamen zurück und rollten über meine Wangen.
,,Jonathan", hauchte ich.

,,Ja?", fragte er müde und blinzelte.
Beim Klang seiner Stimme, musste ich schluchzen.
Langsam bewegte er seine Finger, bald die ganze Hand und hielt sich den Arm vors Gesicht.

,,Mein Held - Liz", las er vor.
,,Reichlich kitschig meinst du nicht?"
Ein schwaches Grinsen schlich sich auf seine Lippen.
,,Halt die Klappe", flüsterte ich tränenerstickt.

Eine Weile saßen wir nur da, dann sprang ich plötzlich auf.
,,Ich muss deiner Mutter erzählen, dass du wach bist!"

Jonathan zog mich wieder herunter.

,,Du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet, bevor wir von Kalle gestört wurden."
Er setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.
,,Bleib liegen", protestierte ich, aber Jonathan winkte ab.
,,Ich fühle mich, als hätte ich tagelang nur gelegen."

Ich sah ihn an.
,,Hast du auch."
Jonathan sah zu mir zurück.
,,Wie lange war ich ausgeschaltet? Oder besser, welcher Tag ist heute?"
,,Vier Tage, heute ist Dienstag."

Jonathan riss die Augen auf.
,,Was!? Was ist mit den anderen?"
,,Es geht allen gut", beruhigte ich ihn.
,,Du hast irgendwas davon gesagt, dass Kalle von der Schule geflogen ist! Wie habt ihr das gemacht?"

Ich zeigte auf die fast verheilte Platzwunde.
,,Er hat mich verprügelt, aber Dean hat genau rechtzeitig Hilfe geholt und Herrn Karlsen zu uns gelotst."
,,Klingt nach Dean", lächelte Jonathan.

Er sah an sich hinunter. Vermutlich spürte er die Nähte.
,,Wie knapp war es?", fragte er ernst.
Ich senkte den Kopf. ,,Zu knapp. Ein paar Minuten später und wir hätten dich vielleicht nicht wieder gesehen."

,,Puh..."
Jonathan atmete tief durch, sog aber gleich wieder scharf Luft ein.

,,Und wie war deine Antwort jetzt?", wollte er wieder wissen.
Er hatte gefragt, ob ich ihm verzeihen würde.
Ich musste an alles denken, was passiert war.
Jonathan sah mich erwartungsvoll an.

,,Nein."
Seine Augen weiteten sich, doch bevor er irgendwas sagen konnte, unterbrach ich ihn.
,,Ich will, dass DU mir verzeihst. Es tut mir leid."

Ich senkte den Kopf.
,,Es tut mir leid, dass ich immer so war."

,,Elizabeth, es braucht dir nichts..."

,,Bitte...nenn mich nicht Elizabeth."

Jonathan sah mich beinahe geschockt an, ich war genauso erstaunt von meinen Worten.

,,Wie soll ich dich sonst nennen?"

,,Als ob du damit sonst Probleme gehabt hättest", lachte ich.

,,Da hast du Recht,...Liz", erwiderte Jonathan verschmitzt.

,,Aber was ist mit dem Kuss, wenn du mir nicht verzeihst?"
,,Den verzeih ich dir."
,,Ach?"
,,Was Ach?"

Jonathan grinste wieder.
,,Nichts. Ich dachte nur daran, dass dir so etwas vermutlich nie passiert wäre. Immerhin bist du ja keine fünf im Kopf."

Ich wollte protestieren, doch dann überlegte ich es mir anders, lehnte mich vor und küsste Jonathan einfach.
Erstaunt erwiderte der den Kuss, während mein Herzschlag mich vermutlich umbringen wollte.

Ein Klopfen unterbrach uns.
Ich sah auf und erblickte Doktor Kristoph, der im Türrahmen stand.
,,Soll ich den Defibrillator holen oder beherrschen Sie die Wiederbelebung? Gegen die Mund-zu-Mund-Beatmung haben Sie doch bestimmt nichts."

Mit einem Kopf so rot wie eine Erdbeere drehte ich mich weg und der Arzt trat an Jonathans Bett.
,,Schön, dass Sie auch wieder unter den Lebenden weilen, Jonathan. Sie waren ja reichlich lange weg. Aber während ich Sie mal untersuche, kann Ihre Freundin ja Ihre Mutter informieren."

,,Freundin?", fragte Jonathan mit hochgezogenen Augenbrauen.

,,Ja oder haben Sie sich etwa während dem Koma getrennt?", fragte Doktor Kristoph unschuldig.

Jonathan sah mich an.
,,Nein, nein. Alles in Ordnung."
Spitzbübisch grinste er.

Dieser Arzt!










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