23. Sternennacht

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Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so dagesessen haben, ohne dass einer von uns beiden ein Wort sagte.

Auf einmal schien ich mich wieder wie ein Kind zu fühlen, das versuchte die Sterne zu zählen.

Eine Erinnerung durchschoss meinen Kopf. Eine große warme Hand an meinem Rücken, ein mit Bartstoppeln besetztes Gesicht, eine tiefe Stimme.
,,Schau Elli, das ist der große Wagen."

Tränen brannten mir plötzlich in den Augen. Ich war fünf.
Mein Vater hatte die Sterne mit mir angesehen. Bevor er den Unfall gehabt hatte, war er mit mir im Garten gesessen und hatte mir die Sterne gezeigt.

,,Ich muss noch schnell Tanken fahren, geh schön ins Bett und mach der Mama keinen Ärger. Sonst können wir morgen nicht in den Zoo fahren."

Er war aufgestanden, ich hatte ihm hinterher gewunken.
Als ich am nächsten Tag aufgestanden war, war ich verschlafen nach unten gelaufen.
Meine Mutter hatte weinend am Küchentisch gesessen.

,,Wo ist Papa?", hatte ich gefragt. Mama hatte aufgesehen und mich auf den Schoß genommen.
,,Papa...kommt nicht wieder. Er ist weg."

Jetzt erinnerte ich mich wieder klar daran, wie ich meine Mutter aus großen Augen angeblickt hatte.
,,Dann fahren wir nicht alle zusammen in den Zoo?"
Meine Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt.

Ab da war alles anders gewesen.
Mama war immer arbeiten. Ich war immer alleine. Ich lernte, um sie glücklich zu machen und fand darin schließlich meinen Sinn des Lebens.
Hatte ich das alles bis heute verdrängt?

Ich hatte nicht bemerkt, wie Jonathan näher an mich heran gerückt war und seinen Arm um mich gelegt hatte.
,,Was ist los?"
Ich antwortete nicht, sondern vergrub mein Gesicht an seiner Schulter.

,,Du musst es nicht erzählen, wenn du nicht willst", sagte Jonathan leise.
,,Mein Vater hat mir früher oft die Sterne gezeigt. Das war...bevor er bei einem Autounfall ums Leben kam."

,,Oh", murmelte Jonathan betroffen.
Er rutschte noch ein Stück näher an mich.
Ich erinnerte mich daran, dass er wusste, dass mein Vater tot war.

Sein Arm lag tröstend auf meinen Schultern.
,,Wie war dein Vater so?"

Ich sah wieder nach oben in die Nacht.
Nach dieser ersten Erinnerung schien mein Unterbewusstsein die wenigen Erinnerungen alle freizusetzen, die ich an meinen Vater hatte.

,,Er war freundlich und... geduldig."
Vor mir sah ich, wie er lachend hinter mir herrannte und mich ärgerte.
,,Und liebvoll."

,,Klingt nach dem perfekten Vater", meinte Jonathan.
Ich suchte kurz nach der Ironie in seiner Stimme, aber da war keine.
Ich spürte, wie ich schon wieder anfing zu weinen.

Jonathan strich mir tröstend über den Rücken.
Seine Hand war ganz anders als die von Kalle.
Kalle war gierig.
Jonathan war sanft.
Und er hatte warme Hände.
Fast schon zärtlich, als wäre ich zerbrechlich, fuhr er mit der anderen Hand durch mein Haar, obwohl ich noch den Dutt trug.

Seine Hand fuhr über meinen Wangenknochen und einen Moment sahen wir uns einfach in die Augen.
Jonathans leuchtend blaue Augen waren so tief wie das Meer.

,,Du hast schöne Augen, Liz", sagte er leise.
Erstaunt sah ich ihn an.
Meine Augen waren einfach nur braun, aber Jonathan sah mich an, als würde er in ihnen die Welt sehen. Etwas Wunderschönes.

Seine Hand wickelte eine Strähne meiner hellen Haare um seinen Finger, die sich gelöst hatte.

Mit der anderen Hand fuhr er an meinem Gesicht entlang.

Sein Gesicht kam näher und mir wurde warm. Ich war sicher, dass meine Wangen sich längst rot gefärbt hatten.

Dann schloss Jonathan die Augen und legte seine Lippen auf meine.
Ich spürte wie seine Arme sich um mich schlossen und jede Kälte der Nacht aussperrten.

Ich schloss ebenfalls die Augen und legte meine Hände auf seinen Rücken.

Ich hatte keine Ahnung vom Küssen, aber daran dachte ich jetzt nicht.
Jonathans Lippen waren warm.
Er zog mich näher an sich, falls das überhaupt noch möglich war.

Sein Geruch umhüllte mich wie eine Schutzhülle vor der Außenwelt.

Schliesslich lösten wir uns nach einer kleinen Ewigkeit voneinander.
Ich starrte Jonathan geschockt an und er sah nicht weniger erschrocken aus.

,,I...ich...ich..." Ich hatte noch nie in meinem Leben gestottert.
Ich rückte ein Stück von Jonathan weg und sprang auf.
,,Was...ich...was hast du gemacht?", fragte ich fassungslos.

Jonathan sah schuldbewusst auf den Boden.

,,Ich...es tut mir leid, Liz, das wollte ich nicht..."

,,Ich...heiße Elizabeth...", war das einzige was mir einfiel, bevor ich mich umdrehte und in die Nacht davonrannte.

Erst nach ein paar Häuserblöcken wurde ich langsamer und schlug den Weg über den Schotterweg ein, der kürzer war.

Meine Hand wanderte an meine Lippen und ich spürte, wie mir wieder heiß wurde.
Warum hatte ich das mitgemacht?

Ich schüttelte den Kopf, als wollte ich Jonathan herausschütteln.
Und auf einmal fiel mir eiskalt sein Plan wieder ein.
Schon wieder hatte er mich dazu bekommen ihm etwas über mich zu erzählen. Und ich hatte ihn...

Wieder schüttelte ich heftig den Kopf.
Morgen würde Robin mir wieder seine Blicke zuwerfen.
Aber dieses Mal spöttische.
Ich hörte wieder sein ,,Wow, Elizabeth" in meinem Kopf.

Warum war ich schon wieder so blöd gewesen?
Warum fiel ich immer auf Jonathan rein?

Ich betrat unser Grundstück und wäre fast gestolpert. Im Blumenbeet zwischen den weißen Rosen sah man noch die Abdrücke von Pamis Sandalen.

Als ich die Haustür öffnete, kam meine Mutter mir entgegen.
,,Hallo Schatz, wo warst du?"

,,Spazieren."

Meine Mutter musterte mich und grinste dann.
,,So? Mit wem denn?"

,,Alleine."
Ich ging an der Küche vorbei und betrat die Treppe.

,,Wem gehört dann die Jacke?", fragte meine Mutter amüsiert vom Treppenansatz.

Ich sah an mir hinab und seufzte. Tatsächlich trug ich noch Jonathans dunkelgraue Jacke.
Da ich nicht wusste, was ich antworten sollte, ging ich einfach weiter die Treppe hoch.

Aber meine Mutter war hartnäckig.
,,Normalerweise ist man glücklicher, wenn man von einem Spaziergang mit seinem Geliebten kommt."

Angenervt drehte ich mich um.
,,Mama, ich war nicht mit einem Geliebten unterwegs!"
Meine Mutter lächelte.
,,Wird schon noch."

Ich verdrehte die Augen.
,,Nein!"

Dann lief ich weiter und drehte meiner Mutter den Rücken zu.

,,Was ist mit dem Kuchen hier?", wollte sie wissen, als sie wieder in die Küche gegangen war.

Ich blieb wieder stehen, drehte mich aber nicht um, da mir wieder ziemlich heiß war.
Auf dem Kuchen lag noch der Zettel.

,,Elizabeth?"

,,Den kannst du essen."

,,Sicher?"

,,Ja!"







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